Märchenmord
immer wieder gesagt , dass dieser es nicht ernst meinte, dass er nur mit ihr spielte . Dass sie ihm nicht nachlaufen sollte . Mann, Marie war nur eifersüchtig. Mit Sicherheit wollte sie To m
für sich. Wer wollte das nicht? Tom war der coolste Junge de r ganzen Schule. Jeder kannte seinen Namen . Gina betrachtete das Armband an ihrem Handgelenk, das Mari e ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. In der Mitte prangte ein rotes Herz aus Glas. Als Zeichen ihrer Freundschaft . Familie, Freundschaft, Liebe. Die größten Flops des letzten halben Jahres. Und ein Talisman war sowieso Betrug! Rote Herzen? Kitsch hoch zehn ! »Der Eiffelturm«, hörte sie ihre Mutter . »Aha, steht er also noch!«, spottete Gina. »Welch ein Wunder! « Als ihre Mutter sie ignorierte, hob Gina erneut das Handy un d flüsterte übertrieben laut: »Aus der Ferne ist der Eiffelturm z u erkennen! – Ein graues Monster unter grauem Himmel! Der Todesengel der Stadt. «
Ihre Mutter seufzte und Gina richtete nun das Handy auf dere n Lippen und filmte, wie diese in ständiger Bewegung waren. Wi e der grellrot geschminkte Mund sich zu all diesen spitzen französischen Ö, Ü und Ä formte, während sie mit irgendeinem Philippe telefonierte . »Französisch«, fuhr Gina fort, »die Sprache der blutigen Revolution. Unzählige Häupter fielen in Paris unter dem scharfen Messer der Guillotine. Ludwig XVI. musste hier sterben. Marie Antoinette fand hier ihren Tod. «
»Ach, ist Paris nicht wunderbar?«, seufzte ihre Mutter. »Waru m nur war ich so lange nicht mehr hier? Es war ein Fehler. « Paris, mon amour, non, Paris, ma mort. Paris, die Stadt der Liebe? Von wegen, Paris, die Stadt des Todes . Mist! Das rote Licht blinkte. Der Akku war bald leer ! »Weil du Grand-père hasst!«, erklärte Gina laut . »Ich hasse ihn nicht«, widersprach ihre Mutter . »Tust du doch! «
»Du übertreibst maßlos! Wir sind einfach nur en désaccord, nicht einer Meinung, verstehst du?« »Und warum kann ich dann Grand-père nicht besuchen, solange ich in Paris bin? Warum wohnen wir nicht bei ihm? Warum weiß er dann nicht einmal, dass wir hier sind? Warum haben wir ihn seit dem Tod von Grand-mère nicht mehr gesehen? Das ist jetzt acht Jahre her! Vielleicht ist er schon tot und wir wissen es nicht.« »Ist er nicht.« »Woher willst du das wissen?« »Weil ich es weiß.« »Weil ich es weiß«, äffte Gina ihre Mutter nach. »Du sollst mich nicht nachäffen«, erwiderte diese. »Das machen nur Papageien.« »Sechs Wochen Paris«, seufzte Gina, »das ist die Ewigkeit!« »Was weißt du schon von der Ewigkeit!« Natürlich. Ihre Mutter war der Meinung, dass nur sie selbst etwas von den wichtigen Dingen im Leben verstand. Aber auch Gina machte sich Gedanken über die Welt, und wenn sie später eine berühmte Regisseurin war, würde ihre Mutter das endlich verstehen. »Wenn du dir einmal einen Vortrag von Herrn Sauer anhören müsstest im Religionsunterricht«, erklärte Gina, »würdest auch du begreifen, was Ewigkeit bedeutet. Gäbe es nicht die Schulglocke, würde er bis zum Jüngsten Tag darüber quatschen, dass jeder Mensch einzigartig ist. ›Vertraut Gott‹«, ahmte Gina die heisere Stimme des Religionslehrers nach. »›Er weiß, was er mit euch vorhat.‹« Doch ihre Mutter hörte nicht zu. Stattdessen beugte sie sich nach vorne zum Taxifahrer und sprach auf ihn ein. Der Verkehr ging nur langsam voran. Es hatte angefangen zu regnen. Auf dem großen Platz, den sie jetzt überquerten, stauten sich die Autos.
Gina lehnte ihren Kopf an die dreckige Fensterscheibe des Taxis. Nie hörte sie zu! NIE! Dabei war es doch offensichtlich, dass Gott in ihrer Familie, den Krons, versagt hatte. Denn würde alles einem göttlichen Plan folgen, hätte Gott nicht einfach weggeschaut, als ihre Mutter am letzten Neujahrsmorgen aufwachte und beschloss, ihr Leben zu ändern. Gott – oder einer seiner Mitarbeiter – hätte die Scheidung ihrer Eltern verhindern müssen. Also, wo, bitte schön, war Gott das letzte verrückte halbe Jahr gewesen? Und davor, als sich ihre Mutter mit Grand-père zerstritten hatte? Und wo bei der Sache mit Tom? Ach ja, und bei ihrem Streit mit Marie hatte er sich auch nicht blicken lassen. Und wie, verdammt noch mal, war er nur auf die blöde Idee gekommen, ihrer Mutter ausgerechnet in Paris einen Job zu verschaffen? Gina seufzte laut. Das Leben war wie ein Computerspiel. Kaum hatte man den ersten Level geschafft, kam der nächste. Marie sagte das immer, aber
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