Märchenmord
was Marie sagte, hatte keine Bedeutung mehr. Gina fasste nach dem silbernen Armband an ihrem Handgelenk, das Maries Namen trug. Marie trug das gleiche mit Ginas Namen. Aber das war endgültig vorbei. Sie nahm es vom Handgelenk, kurbelte das Fenster hinunter und sah ihm nach, wie es durch die Luft wirbelte. Freundschaftsbänder waren etwas für Babys. Und Glück gebracht hatte es auch nicht. »Wir sind gleich da«, sagte ihre Mutter jetzt und beugte sich erneut nach vorne, um dem Taxifahrer Anweisungen zu geben. »Da vorne ist sie, die Rue Daguerre. Mon Dieu , bin ich aufgeregt!«
*
In der Rue Daguerre reihte sich ein Geschäft an das andere und ständig liefen Leute vor das Auto. Es sah aus wie auf einem orientalischen Basar, nicht wie in einer Einkaufsstraße der französischen Hauptstadt. Vor einem Blumenladen waren dicht an dicht Kübel mit Rosen aufgestellt, deren Rot im Regen zu einem dunklen Orange verschwamm. In der Bäckerei an der Ecke standen die Leute Schlange, um schnell noch Brot für das Abendessen zu kaufen. Beim Anblick der langen Baguettestangen lief Gina das Wasser im Mund zusammen und die Erinnerung an die Küche ihrer Großmutter trieb ihr die Tränen in die Augen. Alles war wie immer die Schuld ihrer Mutter. »Hier«, rief diese nun aufgeregt und ihre Stimme glich dem Quietschen der Bremsen, als das Taxi abrupt zum Stehen kam. »Schau mal, Gina, es gibt ihn tatsächlich noch, den Gemüseladen von Monsieur Saïd«, seufzte ihre Mutter glücklich und deutete auf die andere Straßenseite, wo in diesem Moment ein dicker Mann mit buschigem Schnurrbart und langer weißer Schürze aus der Ladentür trat, um zu beobachten, wie sich der Fahrer eines dreirädrigen Transporters mit dem Taxifahrer stritt. »Da ist er ja! Hallo, Monsieur Saïd!« Ihre Mutter begann, aufgeregt zu winken. Dann beugte sie sich nach vorne, um hektisch die Riemchen ihrer Sandaletten festzuziehen, und öffnete die Autotür. In dem schwarz-weiß gepunkteten Kleid sah sie aus wie ein Dalmatiner. Wann hatte es angefangen, dass ihre Mutter sich plötzlich neu einkleidete? Nach den letzten Sommerferien irgendwann. Erst nur eine neue Frisur, dann neue Kleider und schließlich, Silvester, ein neues Leben. Jetzt fehlte nur noch eine Schönheits-OP. Nase entfernen, Ohren ankleben, Lippen aufplustern und so weiter. Irgendwann würde sie, Gina, einen Film über den Wahnsinn der Erwachsenen drehen. Lustlos stieg sie aus und stellte sich im Regen neben ihre Mutter. Diese schob ihre rosa Sonnenbrille nach oben, die sie bei Wind und Wetter trug, um, wie sie sagte, die Welt jederzeit rosarot sehen zu können. »Hier werden wir also die nächsten Wochen wohnen«, seufzte sie glücklich. »Es sieht noch genauso aus wie vor zwanzig Jahren!« »Willkommen in der Steinzeit.« Gina schaltete erneut die Videofunktion des Handys ein und murmelte:
»Sonntag, der 12. Juli . Sieben Uhr am Abend . Es regnet. Ja, er weint, der Himmel über Paris. «
»Da im vierten Stock, siehst du, liegt Nikolajs Wohnung. D u wirst dich hier wohlfühlen.« Ihre Mutter deutete nach oben . »Werde ich nicht! « »Wirst du doch! Paris ist die Stadt der Liebe. Was ist eigentlic h mit diesem Tom? Stehst du immer noch auf ihn? « »Lass mich in Ruhe! « »Laisse-moi tranquille, ma petite! Hier wirst du dich nicht weigern können, Französisch zu sprechen. Das ist schließlich dein e Muttersprache. Deine Lehrerin, Frau Hahn, wird begeistert sein , wenn du nach den Ferien zurückkommst. « »Madame Poulet«, korrigierte Gina. »Wir nennen sie nur Madame Poulet. « Aber ihre Mutter hörte natürlich nicht zu, sondern plappert e weiter. »Weißt du, ich habe hier bei Nikolaj gewohnt, als ich a n der Oper gearbeitet habe. « »Ja, Mama! « »Nikolaj… « »Ist dein bester Freund, ein begnadeter Künstler, Russe und außerdem schwul. Ich weiß, Maman, und das hat Grand-pèr e nicht gefallen, denn Grand-père ist stockkonservativ. « »Er hat die Rolle des Romeo getanzt und war Tagesgespräch i n ganz Paris. « Oper, Ballett, Theater: Das war ihre Welt. Uralte Geschichten , Märchen für Erwachsene, unverständlicher Gesang in Tonlagen, als schrien die Stimmbänder um Hilfe – o.k., wer es mag , aber sie, Gina, stand auf andere Musik. Punk-Rock. Was sonst ! Ihre Mutter schloss die hohe, schwere Haustür auf und war i m nächsten Augenblick im Eingang verschwunden. »Oh, es riech t noch wie damals!«, hörte Gina sie rufen. »Frisches Baguette, Käse und Rotwein. Das ist Paris! «
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