Märchenmord
Gina stolperte und sah es zu spät ! Verdammt ! Hundekacke ! Das war Paris !
•
Zwei
M itten hinein war Gina getreten . In die Hundekacke . Ihre Chucks, nagelneu, waren jetzt an der weißen Sohle i m wahrsten Sinne des Wortes kackbraun . »Oh nein! Verdammt! Schau dir das mal an! « Doch statt Verständnis zu zeigen, brach ihre Mutter in Lache n aus. »Es hat sich wirklich nichts geändert. Das war vor zwanzi g Jahren schon genauso. Komm, wir stellen deine Schuhe obe n gleich unter die Dusche. « »Chucks«, zischte Gina. »Das sind Chucks. «
»Na ja, dann eben…«
»Excusez-moi. Vous avez un problème…?«
Jemand unterbrach ihr Gespräch . Gina drehte sich um . Vor ihr stand ein Junge, schlank, sportlich und offenbar im selben Alter wie sie selbst. Weiße Zähne blitzten auf, als er lächelte, und, Mann, er besaß die dunkelsten Augen, in die Gina je geblickt hat. Genauso gut könnte sie in flüssiger Schokolade versinken. Dunkle Haare wurden von einem roten Tuch aus de r Stirn gehalten . Hey, Johnny Depp als Teenie . Johnny wedelte mit den Händen und langsam begriff Gina , dass er ihr etwas sagen wollte. Aber warum deutete er auf ihr e Chucks? Wollte er sich etwa über ihr Missgeschick mit der Hundekacke lustig machen ? »Laisse-moi tranquille!«, sagte sie. »Lass mich in Ruhe. « Doch er sprach einfach weiter, noch immer dieses Grinsen i m Gesicht. Nein, das war nicht Johnny Depp. Johnny würde sic h nie über Gina lustig machen. Außerdem klang sein Französisch , als ob er erkältet wäre oder eine Drahtbürste im Hals hatte. Gin a wandte sich ab, um ins Haus zu gehen, doch sie hatte nicht mi t ihrer Mutter gerechnet . »Ein Schuhputzjunge! Ich hätte nie gedacht, dass es so etwa s überhaupt noch gibt. Ach, das ist mon Paris. « Jetzt sprach der Junge auf sie ein . »Er meint, er kann deine Chucks wieder so sauber bekommen , dass sie aussehen wie die Originalschuhe von Taylor.« Gina s Mutter schaute verständnislos. »Weißt du, wer das ist? « »Weiß doch jeder. Chuck Taylor. Amerikanischer Basketballspieler. Er hat die Schuhe erfunden. « » Oui, oui … Chucks.« Der Junge schnippte in der Luft mit de n Fingern und bedeutete ihnen mit einer Geste, ihm zu folgen .
»Lass uns hochgehen«, drängelte Gina. »Nein, lass ihn doch deine Schuhe sauber machen. Sicher unterstützt er so seine Familie.« »Sicher ist er ein Betrüger.« »Komm, setz dich!« Sie zog Gina nach vorne. »Sei kein Spielverderber!« Mitten auf dem Bürgersteig neben ihrem Hauseingang hatte der Junge seinen Stand, einen ausgedienten alten Rollstuhl, an dessen Rückenlehne ein Holzkasten mit staubigen Bürsten, schmutzigen Lappen und Schuhputzmitteln hing. Daneben stand ein alter CD-Player, aus dem Reggaemusik schepperte. Gina wurde auf den Rollstuhl geschoben, und bevor sie sich wehren konnte, kniete der Junge vor ihr, band die Schnürsenkel auf und – Oh, lieber Gott, steht das auch in deinem Plan? – zog die Chucks von ihren Füßen. Darunter kamen die Löcher in der schwarzen Strumpfhose zum Vorschein. »Un petit moment«, rief er, wobei er die Schuhe hochhob, und im nächsten Moment war er mit ihren Chucks im Gemüseladen gegenüber verschwunden. Sie hatte es ja gewusst, ein Betrüger! »Was macht er denn jetzt?«, kicherte ihre Mutter und summte die Reggaemusik mit. »Ist er nicht süß? Wäre ich so alt wie du…Der sieht ja aus wie Antonio Banderas.« »Mama, Antonio Banderas ist etwas für Senioren und Reggae für Drogenabhängige. Außerdem ist dir vielleicht aufgefallen, dass er mit meinen Chucks auf und davon ist, was dich natürlich freut, weil Papa sie bezahlt hat«, zischte Gina. »Der lässt doch nicht seine Sachen einfach so hier stehen.« »Vielleicht gehören sie ihm gar nicht!« »Bilde dir doch nicht immer ein, alle Menschen wollten dir nur Böses. Du hast ja schon einen Verfolgungswahn wie dein Vater!«
»Lass Papa aus dem Spiel!« »Wirklich«, ignorierte ihre Mutter sie, »du siehst in letzter Zeit nur das Böse in der Welt. Aber die Menschen begegnen einem immer so, wie man sich selbst benimmt. Sie halten dir nur den Spiegel vor, mein Schatz. Denk mal darüber nach.« »Bla, bla, bla. Du klingst echt wie der Sauer!« Statt einer Antwort sagte ihre Mutter mit Blick auf die Armbanduhr: »Ich geh schnell rüber zu Monsieur Saïd. Ob er sich wohl noch an mich erinnert?« Und schon war auch sie verschwunden. Gina aber saß mitten in Paris in einem Rollstuhl und kam sich vor wie die Klara aus dem Film
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