Märchenmord
schob sie die Füße in die neuen teuren High Heels. Die dunklen Haare hatte sie mit dem Lockenstab bearbeitet und das Ergebnis dramatisch auf dem Kopf arrangiert. Unwillkürlich griff sich Gina an den Kopf. O.k., ihre Haare fühlten sich nun einmal an wie trockenes Stroh. »Warum darf ich mir eigentlich nicht die Haare schwarz färben?« »Weil es den Haaren schadet.« Vielleicht sollte sie nicht lange fragen, sondern einfach zum Friseur gehen! »Weißt du eigentlich, dass du aussiehst wie ein Pudel?«, spottete Gina. »Gut, ich liebe Pudel«, antwortete ihre Mutter und gleich darauf fühlte Gina ihre knallroten Lippen auf der Wange. Oh Gott, ihre Mutter machte sie wahnsinnig. Sie war einfach immun gegen Beleidigungen. Nichts konnte sie kränken. Das war ätzend hoch zehn! Doch! Eines hatte sie in Panik versetzt, nämlich als Gina bei der Scheidung beschloss, zu ihrem Vater zu ziehen. Mann, da wa rValerie, ihre Mutter, total ausgerastet. Tagelang hatte sie geschwiegen . Tagelang ! Sie hatte in der Küche gesessen und den Mund nicht mehr aufgemacht. Sie war nicht mehr ans Telefon gegangen, hatte nich t mehr geduscht, nicht mehr gekocht. Stattdessen nur geschwiegen, Rotwein getrunken und eine Gauloise nach der andere n geraucht . »Eltern«, flüsterte Gina, während sie mit ihrem Handy den Bewegungen ihrer Mutter folgte, »sind heutzutage stärker sucht - gefährdet als früher. Alkohol und Zigaretten stehen als Todesursache an erster Stelle. Betroffene Kinder sollten sich dringend an eine der staatlichen Beratungsstellen wenden , oder… «
»Gina«, warnte ihre Mutter, »mach das aus und rede nicht solchen Blödsinn! Sonst nehme ich dir das Handy weg! Ist sowies o Wahnsinn, dass dein Vater so ein teures Teil gekauft hat. Was , wenn du es verlierst? « »Ich muss doch für meine Kinder dokumentieren, dass ich ein e Rabenmutter habe, die mich allein in einer fremden Stadt aussetzt, um sich mit Drogen zu vergnügen. « »Hast du etwa Angst, alleine zu bleiben? « Blöde Frage. Natürlich hatte Gina Angst. Diese Wohnung besa ß unzählige Zimmer, dunkle Ecken, riesige Schränke. Hier konnt e sich überall jemand verstecken . »Nein! « »Na also! « »Nur dieses ganze alte Zeug… « »Bei diesem alten Zeug handelt es sich um wertvolle Antiquitäten. Teilweise über zweihundert Jahre alt. Nikolaj ist nicht nu r ein begnadeter Tänzer… « »Und stockschwul… «
»Sondern auch leidenschaftlicher Sammler von Möbeln aus der Zeit Ludwig XVI.« »Der wurde geköpft und zwar mit Recht. Dein Nikolaj sollte besser aufpassen, dass es ihm nicht eines Tages genauso geht, wenn er so einen scheußlichen Geschmack hat.« »Gina!« »Gina«, äffte sie ihre Mutter nach. Das Einzige, was diese stets zur Weißglut brachte. Doch heute funktionierte es nicht. Stattdessen legte ihre Mutter einen schwarzen Spitzenschal um die Schultern. »Mir tut es ja auch leid, ma petite, dass ich dich am ersten Abend allein lassen muss, aber Philippe hat mich zum Abendessen eingeladen.« Philippe! Schon wieder dieser Philippe! In Ginas Kopf läuteten Alarmglocken. »Ich weiß, das ist alles nicht einfach für dich. Die Scheidung und die Ferien in Paris …« Ihre Mutter redete jetzt ohne Punkt und Komma, wie immer, wenn sie von einem schlechten Gewissen geplagt wurde. »Aber es ist eine Riesenchance für mich, verstehst du? So eine Chance kommt nie…!« »Wer ist Philippe?«, unterbrach Gina die Entschuldigungen ihrer Mutter. »Ich bin so schnell es geht wieder zurück«, wich ihre Mutter einer Antwort aus. Das Objektiv wurde schwarz. Der Akku des Handys hatte endgültig den Geist aufgegeben. Das Letzte, was Gina aufgenommen hatte, war die dunkle Wohnungstür, die laut ins Schloss fiel.
*
Die Stille hing über der Wohnung wie Wäsche, die langsam vor sich hin trocknet. Die einzigen Geräusche waren das Ticken der Standuhr im Flur und der Verkehr, der von der Straße nach oben drang. Ein ständiges Hupen, Reifenquietschen und Aufheulen von Motoren. Alles war so fremd. Der Geruch, die Tapeten, der Fußboden, die Bilder, die Möbel, die künstlichen Blumen, die Tischdecke, das Klavier, der Kühlschrank, ihr Bett und sogar das Klo! Gina prüfte mindestens dreimal, ob die Eingangstür auch wirklich abgeschlossen, die Kette wirklich vorgelegt war. Sie wiederholte die Vorsichtsmaßnahme an der Hintertür und stellte fest, dass sie klemmte. Dann ging sie in das Wohnzimmer – nein, in den Salon! –, setzte sich auf das ungemütliche Sofa von Ludwig
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