Märchenmord
»Kennst du nicht die Tochter Mohammeds? Das Amulett soll dich gegen den bösen Blick und Geister schützen«, erwiderte Hakima. »Du kannst es brauchen.« Ginas Hand griff nach dem Anhänger. Das Glas fühlte sich in ihrer Hand kühl an. Kaum war sie den einen Talisman los, hatte sie schon den nächsten. »Aber das kann ich nicht annehmen…« »Du musst«, erwiderte Noah entsetzt. »Sonst ist Hakima traurig und dann haben wir hier keine Ruhe mehr. Sie kann mit ihren Tränen die ganze Familie verrückt machen. Sie ist überzeugt, dass du ohne Fatimas Schutz den Mann nicht loswirst. Und weil ihr Name, Hakima, Weisheit bedeutet, glaubt sie, dass sie hellsehen kann.« Gina warf Hakima einen erstaunten Blick zu. Diese war offensichtlich stolz und glücklich, dass sie Gina beschützen konnte. Nein, nicht das Amulett rief in Gina das Gefühl hervor, dass sie unter einem besonderen Schutz stand, sondern Hakimas sanfter Blick. In diesem Moment hörte der Großvater auf, in seinem Glas zu rühren, und sagte etwas. Alle hörten ihm andächtig zu und nickten mehrfach. »Wenn du kein Schakal bist«, übersetzte Noah, »fressen dich die Schakale.« Aha. Logisch. Hatte Gina auch schon immer gedacht. »Und was meint er damit?« »Ich denke«, Noah nahm die nachdenkliche Haltung seines Großvaters an, wobei in seinen Mundwinkeln ein Lächeln saß, als ob er sich erneut über diesen lustig machte, »dass er recht hat. Wenn dieser Mann dich verfolgt, dann hast du nur eine Chance, ihn wieder loszuwerden.« Nichts anderes wollte Gina, nur dem Schatten des schwarzen Mannes entkommen. »Wie denn?« »Du musst ihm hinterhergehen, damit nicht er dich verfolgt.« Der alte Mann murmelte erneut etwas. »Er meint, es ist besser, im Rücken des Feindes zu stehen, als in seine Augen zu blicken«, übersetzte Noah. Und sein Großvater nickte ernst. Für einen Moment tauchte vor ihren Augen das Bild ihres Großvaters auf. Wie er mit ihr durch Paris spazierte. War er wirklich gestern am Telefon gewesen? Was hatte er gedacht? Hatte er ihre Stimme erkannt?
»Was ist los?«, fragte Hakima, die offenbar den siebten Sin n hatte und spürte, dass Gina die Tränen kamen . »Nichts, nur…ich habe auch einen Großvater in Paris, abe r meine Mutter und er, sie haben sich gestritten und nun kann ic h ihn nicht sehen. « »Es ist nicht die Sache deiner Mutter«, erklärte Hakima mit ernstem Gesicht, »deinen Großvater zu besuchen.« Dann wandte si e sich an Noah. »Ihr müsst gehen, sonst kommt Gina nicht meh r nach Hause. Und ihre Mutter wird sich Sorgen machen, so wi e deine um dich. « Erschrocken stellte Gina fest, dass sie recht hatte. Ihre Uhr zeigte bereits kurz nach halb neun. »Ist es schon so spät? Oh Gott , meine Mutter wird mich umbringen. Sie weiß nicht einmal, w o ich bin. « Sie sprang auf . »Keine Sorge, ich bringe dich rechtzeitig zurück«, sagte Noah . »Kommst du wieder?«, fragte Noahs Schwester . »Wenn meine Mutter nichts dagegen hat«, erwiderte Gina . »Dann freue ich mich«, nickte Hakima . »Ich auch. « Und Gina würde sich tatsächlich freuen, Hakima wiederzusehen. Und eines Tages würde sie einen Film über sie alle drehen . Dann, wenn das alles vorbei war .
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Vierzeh n
G inas Armbanduhr zeigte kurz vor zehn, als sie in der Rue Daguerre zurück waren. Die Dämmerung war inzwischen vollständig eingebrochen und verdunkelte nun immer schneller den Abendhimmel. Die Nacht würde schwül werden. In den Straßencafés in der Rue Daguerre waren kaum Plätze zu finden. Solange Gina bei Noah zu Hause gewesen war, hatte sie kaum an den schwarzen Mann gedacht. Vielleicht weil sie nicht alleine gewesen war, vielleicht weil sie spürte, dass sie in Noah einen Verbündeten gefunden hatte. Sie hatten die lange Rückfahrt kaum miteinander gesprochen. Einfach, weil es nichts zu sagen gab. Doch nun, als sie an der Metrostation ausstiegen, begann Ginas Herz zu klopfen. War der schwarze Mann noch hier? Stand er irgendwo an einer Straßenecke, um ihr aufzulauern? Unwillkürlich verlangsamte sie ihre Schritte. Hakimas Kette um ihren Hals fühlte sich kühl an. »Was, wenn er noch da ist?«, flüsterte sie. Noah wusste sofort, wen sie meinte. »Er weiß nicht, wo du bist«, antwortete er und blieb unten an der Rolltreppe stehen, »aber du weißt, wo er auf dich wartet. Das ist es, was mein Großvater meint. Warte! Ich schaue nach, ob die Luft rein ist.« Noah sprang auf die Rolltreppe und schlängelte sich an den Leuten vorbei. Innerhalb
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