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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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noch eine Weile liegen, dann hörte sie die Schläge der Standuhr im Flur. Eins, zwei, drei… Zehn Uhr. Dann schwieg die Uhr. Sie fühlte sich wie erschlagen. Vielleicht hatte sie nicht geschlafen, sondern war die ganze Nacht einfach bewusstlos gewesen. Der Blick durch das Fenster zeigte ihr einen diesigen Himmel. Doch abgekühlt hatte es nicht. Die Sonnenstrahlen waren lediglich von einer feuchten, drückenden Schwüle abgelöst worden. Über der Wohnung lag Stille. Nein, weit entfernt hörte sie die Schritte ihrer Mutter. Offenbar hatte diese ein schlechtes Gewissen oder ihre Klackschuhe gegen Pantoffel vertauscht. Sie schlich wie eine Katze. Was sollte Gina ihr sagen? Wie mit ihr über den vergangenen Tag reden? Wenn jemand einem nicht glaubte, dann war es, ja es war, als ob sie in verschiedenen Sprachen redeten. Sie konnten sich nicht verstehen.
    Jetzt näherten sich die leisen Schritte ihrer Mutter der Tür. Gin a vergrub das Gesicht im Kissen. Besser schweigen. So tun, als o b sie schlief . Die Tür öffnete sich . »Gina? « Gina, äffte sie in ihrem Kopf nach . »Chérie. «
    Von wegen Liebling. Jetzt wollte sich ihre Mutter wieder einschmeicheln. Das konnte sie gut. Aber nicht heute, nicht jetzt , nicht die nächsten Tage . Gina stellte sich schlafend . Die Tür wurde wieder zugezogen . Schritte . Dann fiel die Wohnungstür ins Schloss . Gina war allein . Sie sprang aus dem Bett und ging in die Küche, in der es nac h frischen Croissants roch. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Danebe n zwanzig Euro .
    Gina, Schätzchen, ich wollte dich ausschlafen lassen. Das Geld ist für das Taxi. Komm bitte ins Theater. Wir müssen reden. Ich lade dich zum Mittagessen ein. Maman Gina setzte sich und zupfte lustlos die Kruste von einem Croissant. Hunger hatte sie sowieso keinen. Obwohl Gina sich vorgenommen hatte, unversöhnlich zu bleiben, war sie enttäuscht. Ja, sie wusste, ihre Mutter musste arbeiten. Sie hatte ein Engagement. Aber…wie konnte sie Gina schon wieder allein lassen? Was, wenn der Mann … doch dann fiel ihr ein, dass ihre Mutter ja nicht wusste, dass der Mann auf sie wartete, dass er ihr Handy hatte…Das war die Folge, wenn man schwieg. Tatsache war: Sie war allein und niemand da, um ihr zuzuhören. Was Tom wohl gerade machte? Bestimmt hatte er inzwischen angerufen oder eine SMS nach der anderen geschickt. Er hatte doch nach ihrer Telefonnummer gefragt. Sicher, ein Versprechen war das nicht gerade. Andererseits hatte er einen Stern nach ihr benannt. Das war doch cool, oder nicht? Das war doch mehr als ein Versprechen, oder? Das war so etwas wie…wie eine Liebeserklärung. Gina erhob sich nervös und holte die Milch aus Nikolajs Kühlschrank. »Weißt du, wie viele Sterne es gibt?«, hatte Marie sie später gefragt. »Unendlich viele. Glaub mir, genauso viele Mädchen hat er schon nach ihren Telefonnummern gefragt.« Mist. Sie war zu alt, um Kakao zu trinken. Sie durchwühlte Nikolajs Küche, bis sie endlich eine staubige Packung Pfefferminztee fand. Zwei Löffel Zucker. In den Augen ihrer Mutter wäre das mit Sicherheit zu viel, weil ungesund. Ungesund für die Zähne und Zucker machte dick. Hakima war nicht dick. Noah nicht und der Großvater schon gar nicht …naja… seine Zähne allerdings! Aber wenn ihre Mutter nicht da war, dann konnte sie ihre Erziehungspflicht nicht ausüben. Gina musste demnach ihre Entscheidungen alleine treffen. Also drei gehäufte Löffel Zucker. Beim Rühren hörte sie wieder Noahs Großvater: Es war besser, hinter dem Feind zu stehen als vor ihm. Es klang irgendwie einleuchtend, fast schon beruhigend. Sie erhob sich. Ihr Herz klopfte. Dennoch führten ihre Schritte sie Richtung Wohnzimmer. Vorsichtig schaute sie durch das Fenster. Das Leben auf der Straße war bereits in vollem Gange.
    Lieferwagen blockierten den Verkehr. Ein Roller knatterte über den Gehsteig. Frauen mit Einkaufstaschen, aus denen Baguettestangen ragten, eilten das Trottoir entlang. Jemand feilschte mit Monsieur Saïd um den Preis einer riesigen Wassermelone. Sie spähte die Straße hoch und runter. Niemand stand dort. Keine Spur von dem schwarzen Mann.
    Dann ging ihr Blick hoch zum vierten Stock im Haus gegenüber. Jemand hatte die zerborstenen Fenster mit einer Plane abgedichtet, die sich im sanften Wind leicht blähte. Ihr schien, als hätte sich die Welt beruhigt wie nach einem Sturm. Sie öffnete das Fenster und beugte sich hinaus. Monsieur Saïd hatte sich mit dem jungen Mann geeinigt und zerteilte

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