Märchenmord
dem Ganzen. Ja, ihre Mutter und ihr gottverdammter neuer Weg. Ihr, Gina, war das alte Leben recht gewesen. Sie war glücklich gewesen und ihre Mutter hatte es zerstört. Und jetzt… Das Gefühl der Verlassenheit war schlimmer als die Angst. Es war eine Ahnung von ewigem grauem Himmel, von den Hochhäusern in der Banlieue, es war das Gefühl der Zerbrechlichkeit, die hauchdünne Grenze zum völligen Verschwinden. »Beruhigen Sie sich, Madame«, unterbrach Maurice Ginas Gedanken. »Sie ist ja wieder da. So sind die jungen Leute eben. Vergessen Zeit und Ort. Träumen.« Träume? Gina hatte nicht geträumt. Aber das würde sie ihrer Mutter garantiert nicht erzählen. Sie würde sich an das halten, was Noahs Großvater gesagt hatte.
Wenn du kein Schakal bist, fressen dich die Schakale.
Ein super Spruch, um zu überleben. »Wo warst du?«, hörte Gina ihre Mutter erneut fragen. Gina antwortete nicht. Schakale waren in erster Linie stumm, so lange, bis sie… keine Ahnung. »Ich war bei ihm«, sagte sie. »Bei Noah. Er hat eine Schwester, die im Rollstuhl sitzt und einen Großvater, der den ganzen Tag Tee trinkt, und von dem Zucker sind alle seine Zähne kaputt und sie haben kein Geld, um neue zu kaufen.« Sie erzählte das so, als hätte sie sich prächtig amüsiert. Ihre Mutter schwieg, einen Moment aus dem Konzept gebracht, und fragte dann: »Und wo wohnt Noah?« »In Clichy-sous-Bois«, antwortete Gina lässig. Jetzt war der Kommissar alarmiert. »Das ist keine Gegend, in der du dich aufhalten solltest. Ich muss mir diesen Noah wohl mal vorknöpfen.« »Haben Sie sonst nichts zu tun?«, zischte Gina. »Und was ist mit diesem Mädchen? Haben Sie es gefunden? Haben Sie überhaupt nach ihr gesucht? Haben Sie nach dem schwarzen Mann gesucht?« »Es gibt kein Mädchen«, antwortete ihre Mutter. »Monsieur Ravel kam her, um dir das zu sagen. Da war ich gerade nach Hause gekommen und du warst nicht da.« »Du hast dich geirrt«, erklärte der Kommissar. »Wir haben keine Spuren für ein Verbrechen gefunden oder einen Hinweis darauf, dass die Wohnung bewohnt war. Vielleicht hast du sie mit jemandem aus dem fünften Stock verwechselt.« »Nein, das Mädchen war im vierten Stock. Ganz sicher. Sie saß…« »Und wir haben auch keine Vermisstenmeldung zu einem Mädchen, auf das deine Beschreibung passt«, erklärte Monsieur Ravel. »Das ist mir scheißegal«, schrie Gina. Sie zitterte am ganzen Körper vor Wut. Wenn sie die Geschichte mit dem Mädchen schon nicht glaubten, was war dann mit dem Mann? Dass er ih r Handy hatte. Dass er sie verfolgte. Sie würden denken, auch da s hätte sie sich eingebildet . »Gina«, ihre Mutter unterbrach sie ungeduldig, »wenn du jetz t nicht damit aufhörst, diese Geschichten… « »Das sind keine Geschichten«, brüllte Gina und rannte aus de m Raum, die Tür hinter sich zuknallend. In ihrem Zimmer began n sie, wütend auf und ab zu gehen. Sie griff nach ihren Sachen , packte sie in ihren Koffer, warf sich schließlich aufs Bett un d brach in Tränen aus . Wenn es böse Geister, diese Dschinns, tatsächlich gab, dann kamen sie erst zu einem, wenn man erwachsen war. Nur die Erwachsenen hatten den bösen Blick . Wenige Minuten später hörte sie, wie die Wohnungstür in s Schloss fiel und die Schritte ihrer Mutter, die sich ihrem Zimme r näherten. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf die Tür, doch de r Schlüssel fehlte . »Gina«, hörte sie ihre Mutter . Gina antwortete nicht . »Schätzchen. « Sie reagierte nicht . »Monsieur Ravel ist gegangen. « Schweigen . »Es tut mir leid, dass… « Gina antwortete nicht. Sie zog das Kissen über ihren Kopf un d schwieg . Sie hörte einen Seufzer, und ohne ein weiteres Wort zu sagen , verschwand ihre Mutter. Gina spürte ein Gefühl des Triumphes , als hätte sie ihre Mutter besiegt. Zum ersten Mal in ihrem Leben . Nein, sie hatte kein schlechtes Gewissen deswegen. Die ganz e Wut, die sie seit einem halben Jahr auf ihre Eltern, das Leben , die Welt empfand, brach sich jetzt ihre Bahn .
Jeder lebt sein Leben für sich allein.
Und wenn du kein Schakal bist, fressen dich die Schakale.
Das war ein kluges Sprichwort aus dem Munde von Noahs Großvater und er musste es wissen. Er war ein Mann der Wüste. Aber warum ließ dieser Satz Gina erneut in Tränen ausbrechen?
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Fünfzeh n
G ina wachte davon auf, dass ihr der Schweiß ins Gesicht rann. Sie hatte so geschwitzt, dass ihr Haar an der Stirn und im Nacken klebte. Mit geschlossenen Augen blieb sie
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