Märchenmord
weniger Sekunden war er verschwunden. Gina schob sich hinter eine Säule. Niemand achtete auf sie. Bis sie Noah wieder die Rolltreppe herunterkommen sah. »Alles klar«, sagte er. »Mehr oder weniger.« »Wie meinst du das?« »Die Polizei steht vor eurem Haus.« »Die Polizei?«
Er nickte . »Warum? « »Keine Ahnung. Aber ich gehe lieber. Es ist besser, sie wisse n nicht, dass du mit mir zusammen warst. « »Du meinst…? « »Ich will einfach kein Risiko eingehen, verstehst du? Wir sin d nicht hier, weil wir reich werden wollen, sondern wegen Hakima. Hier kann sie operiert werden. Eines Tages. In Marokk o nicht.« Und dann war Noah im Getümmel verschwunden. Gin a wusste, dass jetzt kein Bus mehr zurück in die Banlieue fuhr . Nicht mehr um diese Uhrzeit. Wo würde er schlafen ?
*
Kaum betrat sie die Wohnung, hörte Gina ihre Mutter mit jemandem sprechen. Dabei schluchzte sie laut. Was war geschehen? So schnell sie konnte, rannte Gina den langen Flur entlang zum Salon. Vor der Glastür blieb sie stehen. »Wo kann sie nur sein?«, rief ihre Mutter. »Warum habe ich sie nur allein gelassen? Ich hätte ihr glauben sollen. Ich hätte ihr glauben sollen…Und warum ist sie nicht auf dem Handy erreichbar?« Sie lief im Salon hin und her, wobei sie so etwas wie ein Taschentuch auf ihre Augen drückte. »Alles in Ordnung, Maman«, rief Gina. »Ich bin hier.« Mein Gott, das Gesicht ihrer Mutter! Es war kreidebleich. Ein Träger ihres Kleides war nach unten gerutscht. Und am Fenster stand Maurice Ravel, le commissaire . Auch er hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht. Beide starrten Gina an, als sei sie ein Geist. Und in Nikolajs Salon war plötzlich eine Stil-le…man hätte die Holzwürmer in seinem Parkett hören können, falls es welche gab. Doch dieser fast friedliche Augenblick dauerte nur wenige Se kunden. Gina hätte nicht gedacht, dass die Stimmung so schnell umschlagen konnte. Gerade noch war der Raum von Trauer und Angst erfüllt gewesen, jetzt brach die Wut ihrer Mutter über sie ein wie ein Gewitter. »Wo warst du, verdammt noch mal? Wo hast du dich herumgetrieben? Seit Stunden suche ich nach dir. Ich habe angerufen und du warst nicht da. Ich bin sofort hierhergefahren, obwohl ich bis zum Hals in Arbeit stecke. Bis zum Hals! Verstehst du! Und die Wohnung ist leer. Du hast nicht einmal eine Nachricht hinterlassen.« Das war die Gelegenheit, ihr von dem schwarzen Mann und dem Handy zu erzählen. Doch ihre Mutter ließ sie gar nicht zu Wort kommen. »Und warum bist du nicht auf dem Handy erreichbar? Wofür hast du es überhaupt? Auch dein Vater hat versucht, dich anzurufen. Schon wieder hat er mich am Telefon angebrüllt. Angebrüllt, verstehst du? Also, wo warst du?« Die Fragen ihrer Mutter waren Blitze, das Klacken der Absätze auf Nikolajs teurem Fußboden die dazugehörigen Donnerschläge. Gina fürchtete, mit jedem Schritt würden die Schuhe kleine Löcher in das wertvolle Parkett hämmern. Klack, klack, klack. Das würde Nikolaj mit Sicherheit nicht gefallen. »Ich bin fast wahnsinnig geworden vor Angst«, schrie ihre Mutter hysterisch. »Ich habe gedacht, du hast dich in der Stadt verirrt. Hast die falsche Metro erwischt und stehst jetzt irgendwo…« Gina konnte nicht anders. Sie begann zu lachen. Scheiße, das war nun wirklich nicht der richtige Moment. Sie sah es an den Augen ihrer Mutter. Das war der böse Blick, dachte sie und ihre Hand griff nach Hakimas Amulett. Vielleicht half das auch gegen die Wut von Müttern? Gegen ihren bösen Blick. Dann versuchte sie, sich zu beherrschen. Aber es gelang ihr nicht. Sie wurde von einem Mann verfolgt, der sie vielleicht töten wollte, und ihre Mutter … ihre Mutter machte sich Sorgen, dass sie sich verlaufen haben könnte? Es war einfach absurd. Abgrundtief komisch. Sie konnte nicht aufhören zu lachen, bis schließlich ihre Mutter auf sie zutrat und… Die Ohrfeige spürte Gina nicht. Der Augenblick war so ungeheuerlich, dass sogar die Standuhr im Flur für einen Moment aufhörte zu ticken und dann erneut zu schlagen begann. Eins, zwei, drei… sieben, acht, neun, zehn! Mit dem letzten Schlag zog ihre Mutter die Hand zurück. Nein, sie hatte Gina nicht geschlagen, aber es war die Absicht, die zählte. Zum ersten Mal hatte ihre Mutter die Hand gegen sie erhoben. Empörung schoss in Gina hoch. Ach was, Empörung, es war Erbitterung und das abgrundtiefe Gefühl von Wut. Sie war es doch, die Gina in der fremden Stadt allein gelassen hatte. Sie war schuld an
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