Märchenmord
Stiefmutter, Najah nach Paris zu ihrem Bruder Ahmed schickte. Sie hat gesagt, dass es Najah dort gut gehen würde. Sie könnte einen Beruf lernen, was weiß ich. Aber als Najah hier ankam, war alles ganz anders.« »Gehört Ahmed zu den Papierlosen?«, fragte Noah. Pauline schüttelte den Kopf. »Nein. Sein Ziel ist es, so viel Geld zu verdienen, dass er als reicher Fürst nach Marokko zurückkehren kann.« »Und Najah?« »Najah hatte einmal einen Pass, bis dieser falsche Onkel ihn ihr weggenommen hat. Sie kann nicht weg aus Paris. Mann, Najah hat ihm vertraut. Er war ihre Familie, aber er wollte sie lediglich mit seinem Sohn Karim verheiraten.« Karim. So hieß der schwarze Mann also. »Wie alt ist Najah jetzt?«, fragte Gina. »Fünfzehn.« Fünfzehn! Najah war nicht viel älter als sie selbst und sollte heiraten. Das war unvorstellbar. Klar, Jungs, das war ein wichtiges Thema. Liebe, ja. Küssen, ja. Aber heiraten? Hey, dann war das Leben ja vorbei, noch bevor es überhaupt angefangen hatte. »Und dann traf Najah Julien oder besser Julien traf Najah.« Pauline hob dramatisch die Hände. »Und das Schicksal nahm seine n Lauf. « »Allah, ein Franzose?« Noahs Gesichtsausdruck ließ erkennen , dass er das für ein großes Problem hielt . »Ein Franzose. Und was für einer. Ich sag doch, wie im Märchen . Reiche Familie. Armes Mädchen. Aschenputtel. Sein Vater is t Arzt am Krankenhaus Salpêtrière. Bildet sich ein, etwas Besseres zu sein, der Herr docteur. « Gina zuckte zusammen. Das war die Klinik, in der Grand-pèr e arbeitete. Paris war ein Dorf . »Bien sûr«, fuhr Pauline fort, »wollte er nicht, dass sich Julien i n eine Marokkanerin verliebt. Und deshalb…«Sie machte ein e kurze Pause. »… hat er Julien vor drei Monaten in ein Interna t nach England geschickt, so eine Harry-Potter-Einrichtung, w o er nun seine Zeit mit Quidditch bzw. Rudern verbringt. « »Und Najah und Julien haben sich aus den Augen verloren?« , fragte Gina . »Nein, sie haben sich geschrieben. Mann, das ist die ganz groß e Liebe, versteht ihr? « Gegen diese Geschichte war die Sache mit Tom keine unglückliche Liebesgeschichte, sondern lediglich ein Schulterzucke n wert. Und Gina verstand plötzlich. Große Liebe funktioniert e offenbar nur, wenn man gegen den Rest der Welt dafür kämpfen musste. Das war große Oper . »Und dann? « »Karim ist noch nie aus seinem Kaff herausgekommen. Abe r nun hat ihn sein Vater so schnell wie möglich nach Paris geholt , damit er Najah heiratet und sie nach Marokko bringt. Dort sol l sie in seinem Wüstendorf Ziegen hüten.« Sie schüttelte schaudernd den Kopf . Noah warf Gina einen Blick zu: »Nicht alle Marokkaner sind so . Und es gibt dort nicht nur Wüste. «
»Ihr seid alle Paschas«, erklärte Pauline, »herrschsüchtig und rücksichtslos.« »Und weiter?« Gina wurde langsam ungeduldig. »Es war eine Woche vor den Ferien, als sie das mit Julien herausgefunden haben. Sie kamen zur Schule. Sie standen vor dem Tor. Sie wollten Najah sofort nach Marokko zurückschicken.« »Aber warum?« »Najah hat versucht, es mir zu erklären. Sie hat Schande über die Familie gebracht. Dafür, sagte sie, werden sie mich töten.« Pauline schüttelte den Kopf und blickte Noah an, als sei er der schwarze Mann. »Seit wann verdient man den Tod, wenn man sich verliebt?« Noah hob die Hände: »Dafür kann ich nichts.« »Aber wer? Wer stand vor dem Tor?«, fragte Gina. »Dieser heimtückische Onkel Ahmed und sein Sohn Karim. Als ich sie gesehen habe, wusste ich sofort Bescheid. Najah versteckte sich in der Schule. Meine Mutter putzt dort. Sie hat einen Schlüssel, und als es dunkel war, habe ich sie in die Wohnung in der Rue Daguerre gebracht. Monsieur Mazirh ist sowieso nie in Paris. Also eigentlich eine sichere Sache.« »Aber wie hat ihr Onkel das mit Julien überhaupt herausgefunden?«, wollte Gina wissen. »Er hat einen Brief entdeckt, den Najah in ihrer Schultasche hatte. Mann, in ihrem Liebeswahn hat Najah den immer mit sich herumgeschleppt, und als sie sich weigerte, Karim zu heiraten, haben sie ihr hinterhergeschnüffelt.« »Wohin hat Julien die Briefe geschickt?« » Merde . Ich war wirklich dumm, quel idiot . Hab nicht nachgedacht. Die Briefe kamen in die Rue Daguerre. Julien hat sie an Monsieur Mazirh adressiert. Auf dem Brief stand die genaue Adresse. So muss Karim darauf gekommen sein, dass Najah dort ist. Ich dachte, das Versteck sei sicher, aber ich habe mich getäuscht.« Die Tür
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