Märchenmord
»Und warum hat Pauline nichts davon gesagt? O h Gott, wie soll ich das nur Monsieur Mazirh erklären? « »Pauline?«, fragte Noah . »Meine Tochter. « Wussten sie endlich, wer das Mädchen war ? »Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«, fragte Gina aufgeregt . »Sie ist vor circa zwei Stunden weggegangen. Warum? « Nein. Pauline war nicht das Mädchen am Fenster. Gina schüttelte den Kopf . »Wann waren Sie zuletzt in der Wohnung von Monsieur Mazirh?«, fragte Noah . »Seit Wochen nicht mehr. Pauline ist für mich putzen gegangen. Sie brauchte das Geld. « »Und wann hat sie dort zum letzten Mal sauber gemacht?« Erwartungsvoll sah Noah Madame Reno an . »Sonntagabend. Warum? « »Sonntag? Als es in der Wohnung gebrannt hat?«, wundert e sich Gina . »Pauline war dort, als es gebrannt hat?« Madame Reno beka m keine Luft mehr. »Davon weiß ich nichts. «
»Und sie hat auch nichts über ein Mädchen in der Wohnung gesagt?«, fragte Noah nachdenklich. »Was für ein Mädchen? Wovon sprecht ihr überhaupt? Was soll das alles?« »Wo ist Ihre Tochter jetzt?« »Ich weiß es nicht. Sie sagt mir nicht mehr, wohin sie geht.« So machen das also andere Jugendliche, dachte Gina, sie sagen einfach nicht, wohin sie gehen, und die Mütter überleben es trotzdem. O. k . , sie werden hysterisch wie Madame Reno, aber sie überleben es. »Vielleicht hast du ja Pauline am Fenster gesehen«, sagte Noah an Gina gewandt. Er vermied, ihr in die Augen zu sehen. »Das wäre doch eine Erklärung.« »Eine Erklärung wofür?«, zischte Gina. »Dass ich mir das alles eingebildet habe? Und was sollte Pauline mit dem schwarzen Mann zu tun haben?« »Schwarzer Mann? Welcher schwarze Mann? Mon Dieu ,wovon redet ihr?« Madame Renos Stimme war schrill wie eine Sirene. In diesem Moment hörten sie die Wohnungstür im Flur ins Schloss fallen. »Das ist sie«, seufzte Madame Reno. »Gott sei Dank, mein kleines Mädchen, sie ist hier.« Sie rannte aus dem Zimmer. Gina und Noah folgten ihr. Aber es war kein kleines Mädchen, das im Flur die Schuhe auszog. Pauline war größer als Noah. Ihre langen Haare hingen wie ein rotes Tuch über den Rücken. Sie trug eine schwarz-weiß gestreifte Hose und dazu ein weißes Top, auf dessen Rücken zu lesen war Stop following me . Auf ihren Ohren saßen die Kopfhörer eines vorsintflutlichen Walkmans, aus dem ein dumpfer Bass ertönte. Als Madame Reno rief »Pauline, Dieu merci, du bist da«, drehte sie sich um. Obwohl das Mädchen die schwarze Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen hatte, erkannte Gina sie sofort . Sie hatte das Mädchen schon einmal gesehen. In der Nacht de s Feuers. Kurz bevor sie bewusstlos geworden war. Dasselb e Skateboard unter dem Arm, das nun an der Wand lehnte . »Was ist los?«, fragte Pauline . »Du weißt, warum wir hier sind«, bemerkte Noah . Sie zögerte nur kurz, bevor sie antwortete: »Hat Karim Naja h gefunden? « »Wer ist Najah?«, fragte ihre Mutter entsetzt . »Wer ist Karim?«, wollte Noah wissen .
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Achtzeh n
D ie Ereignisse waren schnell erzählt, andererseits ließen sie viele Fragen offen. Doch eines war klar: Es war für Gina eine Erlösung zu erfahren, dass das Mädchen tatsächlich existierte, dass sie jetzt ihren Namen wusste: Najah. »Seid ihr Märchenfans?«, fragte Pauline. Gina zuckte mit den Schultern und fand, dass Pauline eine von der Sorte war, die sich ständig wichtig machen musste. Noah schien das nicht zu stören. »Wenn sie gut sind«, erwiderte Noah und grinste. »Es war einmal… merde«, Pauline saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, nahm eine Haarsträhne in den Mund und begann, darauf herumzukauen wie auf einer roten Zuckerschlange. »Ich mache mich lustig über sie und vielleicht ist Najah… Ach, was soll’s. Also: Najahs Mutter starb, als sie dreizehn war. Und dann geschah, was in Märchen, ihr wisst schon, immer passiert. Ihr Vater heiratete kurz darauf eine Frau, die nur fünf Jahre älter als Najah ist. Ich meine, da ist mir mein Alter ja noch lieber, der abgehauen ist, als er meine roten Haare gesehen hat.« Sie lachte kurz auf, aber es klang nicht fröhlich. »Jedenfalls, die böse Stiefmutter hasste Najah. Nicht nur das. Sie machte ihr das Leben zur Hölle. Dagegen ging es Aschenputtel richtig gut. Kennt ihr Aschenputtel?« Gina nickte. Noah schüttelte den Kopf. »Najah hat gesagt, dass es immer Streit gab. Ihr Vater muss die totale Memme sein, und damit er Ruhe hatte, war er damit einverstanden, dass seine Frau, die böse
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