Märchenmord
Gina ängstlich. »Nein. Ich möchte wissen, was er hier will.« Eine Weile sagten beide kein Wort. Durch die offene Tür drang erregtes Gemurmel. »Verstehst du, was sie sagen?«, flüsterte Gina. »Auf jeden Fall sieht es nicht so aus, als würde er die Stadt verlassen wollen.« Auf Noahs Gesicht trat ein nachdenklicher Ausdruck. »Hier geht es um etwas anderes.« »Um was?« Noah antwortete nicht. Gina spürte, wie erneut die Panik in ihr hochkroch. Trotz der Hitze fröstelte sie. »Lass uns gehen. Ist mir egal, was dein Großvater für Ratschläge hat. Ich kann das nicht.« Wieder reagierte Noah nicht. Er war voll darauf konzentriert zu verstehen, worüber die beiden Männer sprachen. »Noah, was ist los?« »Nichts.« Er drehte sich plötzlich zu ihr um und zog sie vom Fenster weg. »Es ist nichts.« Dann lief er in die entgegengesetzte Richtung los, aus der sie gekommen waren. Gina folgte ihm. Sie spürte, dass ihn etwas beunruhigte, hatte aber nicht den Mut, ihn danach zu fragen. Sie hatte nur den ei nen Wunsch, den schwarzen Mann nicht mehr sehen zu müssen. Sie wollte ihn einfach aus ihrem Kopf verschwinden lassen. Nach einer Weile fragte sie: »Und wohin gehen wir jetzt?« »Wir haben noch etwas zu erledigen«, antwortete Noah.
*
Noah kannte sich offensichtlich in der Stadt aus. Er bog von einer Straße in die andere, lief über rote Ampeln, drängte sich an Kreuzungen zwischen Autos hindurch und ließ sich von deren Hupen nicht irritieren. Gina folgte ihm. Sie war müde. Ihr war heiß. Ihr Kopf war leer. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, Angst zu empfinden. Wie lange sie gegangen waren? Sie hatte keine Ahnung. Irgendwann blieb Noah vor einem Haus stehen, dessen Verputz dabei war, sich vollständig abzulösen. Er zog einen Zettel aus der hinteren Hosentasche. »Hier muss es sein«, sagte er. »Rue Hyppolyte Maindron Nr. 22.« »Was?« »Die Straße, in der die Putzfrau wohnt. Madame Reno. Sie hält die Wohnung in der Rue Daguerre 13 in Ordnung.« »Die Nichte der Concierge?« »Ja.« »Woher hast du die Adresse?« »Von der Concierge.« Noah blickte sie triumphierend an. »Und wenn die Putzfrau einen Schlüssel hat, weiß sie vielleicht auch, wie dein Mädchen in die Wohnung gekommen ist oder wer sie ist.« »Und warum erzählst du mir das erst jetzt? Du schleppst mich in diese Straße…« »Wir müssen sie warnen. Die beiden Männer im Reisebüro haben gerade diese Straße erwähnt. Ich konnte nicht alles verstehen, aber das kann doch kein Zufall sein, oder? Er verfolgt dieselben Spuren wie wir. « »Ich verfolge keine Spuren. Ich will nur nicht, dass er mich verfolgt. Das ist alles. « »Ich wusste doch, dass unser Spiel irgendwann Erfolg habe n würde«, ignorierte Noah das Entsetzen in Ginas Stimme . Die Panik war ein dumpfer Schmerz in ihrer Brust. So musste e s sich angefühlt haben, als das Messer das Mädchen traf . »Das ist kein Spiel!«, zischte Gina. »Für mich ist das bittere r Ernst. Der reinste Horror. Ich habe das Mädchen gesehen. Wie e r sie gepackt hat. Er hat mit dem Messer auf sie eingestochen. E r hat mein Handy aus der Wohnung gestohlen. Er verfolgt mich . Er weiß, was ich weiß. Er ist megagefährlich, wann kapierst d u das endlich? « »Es war ein Dolch«, verbesserte Noah . »Also gut, ein Dolch, aber das ist kein Spiel, o. k.? « Noah schaute lange auf den Zettel in seiner Hand. Er runzelt e die Stirn und überlegte. Dann ging er kurz entschlossen auf di e Haustür zu und klingelte . »Was machst du da? « Noah antwortete nicht, denn durch die Sprechanlage klang di e Stimme einer Frau: »Wer ist da? « »Madame Reno?«, rief Noah. »Es geht um die Wohnung in de r Rue Daguerre. « Die Minuten vergingen. Nichts geschah. Bis die Frau erstaun t fragte: »Was ist mit der Wohnung? Ist etwas passiert? « »Das möchte ich Ihnen unter vier Augen erzählen. « Einige Sekunden Stille, dann ertönte der Summer. Sie betrate n den Hausflur und rannten die Treppe hoch . Eine Frau stand vor der Tür. Sie war klein, extrem dünn und sa h ihnen besorgt entgegen. »Was ist los? Was hat sie wieder angestellt? «
Von wem sprach sie ? Von dem Mädchen am Fenster ?
*
»Es hat in der Wohnung gebrannt?« Madame Reno beruhigt e sich nur langsam . Sie standen in einer winzigen Wohnung, die vollgestopft wa r mit billigen Möbeln, die drohten auseinanderzufallen. Zusammen mit dem abgenutzten Fußboden und den Spuren vo n Schimmel an der Zimmerdecke hinterließ sie einen Eindruc k von Armut.
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