Märchenmord
schmales Schild wies darauf hin, dass es sich um eine Polizeistation handelte, genauer gesagt um das Commissariat 14ème Arrondissement, Avenue du Maine 114–116.
Ein trostloser Baum vor dem Gebäude ließ seine Äste hängen, als fühle er sich in der Nähe der Polizei unwohl. »Gleich um die Ecke ist die Rue Daguerre«, erklärte Pauline. »Du bist dann schnell zu Hause und deine Mutter kann sich beruhigen. Du kommst ja lediglich zu spät, ich aber habe Najah in der Wohnung versteckt und die ist total ausgebrannt. Ich habe keine Ahnung, wie ich das meiner Mutter erklären soll.« Vor der Tür parkte ein Polizeiwagen mit laufendem Blaulicht. Daneben stand ein Mercedes mit angeschalteter Warnblinkanlage. Pauline blieb stehen und warf einen misstrauischen Blick auf das Gebäude. »Ich weiß nicht. Meinst du wirklich, es ist eine gute Idee, zur Polizei zu gehen?« »Ich habe keine bessere. Du etwa? Karim will mich, die einzige Zeugin, beseitigen. Mein Leben ist in Gefahr.« Pauline seufzte, folgte Gina jedoch, als diese das Foyer des Kommissariats betrat. Dabei stieß sie mit dem Fuß das Skateboard vor sich her, was auf dem Marmorboden ziemlichen Lärm machte. Das würde Ärger geben, dachte Gina und im nächsten Augenblick hörten sie schon jemanden rufen. »Stopp!« Sie hielten gleichzeitig an und wandten sich um. In der Pförtnerloge erschien das Gesicht eines Polizisten, der Ähnlichkeit mit Ginas Religionslehrer hatte. Glatzköpfig, graue Bartstoppeln im Gesicht, als hätte er Schimmel in seinem Kabuff angesetzt. »Was wollt ihr hier?« »Ist Monsieur Ravel da?«, fragte Pauline betont cool. Sie gab dem Skateboard einen Stoß, kickte es nach oben und fing es mit einer Hand auf. »Wer?« »Monsieur Ravel. Der Polizist«, erklärte Gina. »Weißt du, Mademoiselle, wie viele Polizisten es in Paris gibt? Mehr als Ratten, ha, ha, ha!« Der Mann lachte albern.
Pauline ging nahe an das kleine Fenster und sagte: »Wir müsse n mit ihm sprechen. « »Habt ihr einen Ausweis dabei? « »Nein. Wozu auch?«, fragte Pauline . »Ohne Ausweis… « »Aber ich muss mit ihm reden. Es geht um Leben und Tod!«, rie f Gina und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen . Der Beamte sah sie einen Moment an und sagte dann: »Also gut , ich ruf mal oben an, ob Maurice da ist. Du sagst, du kennst ihn? « Gina nickte. »Er ist ein Freund meiner Mutter. « Danach hörten sie ihm zu, wie er telefonierte: »Oui, oui. Bie n sûr, mon commissaire.« Als er aufgelegt hatte, sagte er: »Ih r könnt hochgehen. Zweiter Stock links. «
*
Der Polizist, der sie oben erwartete, war nicht Monsieur Ravel. Er hatte auch keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Sein Haar war von einem schmierigen schmutzigen Grau, wie ein Putzlappen. Aus dem Augenwinkel nahm Gina wahr, dass der Aufschlag seiner speckigen Hose sich auflöste. Jegliche Hoffnung verschwand bei diesem Anblick. Er reichte einem gepflegt wirkenden Mann im schwarzen Anzug die Hand und sagte: » Monsieur, le docteur , seien Sie sicher, dass wir uns darum kümmern werden. Aber Sie müssen verstehen, dass…« Der Mann jedoch fluchte, drehte sich um, und ging eilig die Treppe hinunter. Pauline sah ihm neugierig nach und wandte sich an den Beamten: »Gehört dem der Schlitten vor der Tür?« Der gab jedoch keine Antwort, sondern fragte ungeduldig mit Blick auf eine Mappe in der Hand: »Was wollt ihr? Um diese Zeit haben wir keinen Besucherverkehr mehr. Nach acht müsst ihr zum Commissariat Central.«
»Es geht um eine Freundin von mir«, begann Pauline . »Und? « »Sie wurde ermordet. « »Aha. « »Nein, wirklich. Sie … ich meine, sie war, sie war…sie musst e sich vor ihrem Onkel verstecken und nun ist sie tot. « Der Beamte schlug die Mappe auf und hob seinen Blick nicht . »Verstehen Sie nicht …?« Paulines Stimme hob sich. »Sie ist vo r ihm weggelaufen. Vor ihm und ihrem Bräutigam. « »Panik kurz vor dem Altar?« Der Beamte grinste. »Sehr interessant, aber für verloren gegangene Bräute sind wir nicht zuständig. Vielleicht geht ihr besser zum Fundbüro. « Einige Polizisten im Hintergrund, die das Gespräch verfolg t hatten, lachten laut . »Aber sie haben sie umgebracht«, schrie Pauline, »kapiert ih r Idioten das nicht? Und jetzt ist meine Freundin hier in Gefahr. « »Hey, hey, hör auf, mich zu beschimpfen. Wie heißt du eigentlich? « »Aber sie hat recht«, mischte sich Gina ein. Sie bemühte sich , möglichst ruhig zu sprechen. »Er verfolgt mich. « Sein gelangweilter
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