Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
aberwitzig. Aber in den Augen eines Elfjährigen, der aus einer Gegend kommt, wo nichts normal ist, war das eine völlig neue Erfahrung.
Zuerst überfiel mich immer Trauer und Schwermut, wenn ich an das Haus meiner Kindheit dachte, an die glitzernden Sonnenreflektionen, an den Mond und die Sterne über dem Ionischen Meer, den Duft von Jasmin, Basilikum und Minze, an das Violett der Bougainvilleen, an die Farbspiele der Sonnenauf- und -untergänge. Aber das ging vorbei, als mir klar wurde, was der Umzug in die Fremde gebracht hatte. In Modena stand mir eine Zukunft offen, weit weg von den zerschossenen Verkehrszeichen, von den Blicken, die Unterwürfigkeit fordern, von den blutbefleckten Bürgersteigen, von den knallenden Kalaschnikow-Salven, die mitten in der Nacht auf die Rollläden von Ladenbesitzern abgefeuert werden, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen.
In Modena bestand eine reale Chance, die noch warmen Blutlachen, den brandigen Gestank meiner Heimat, die sich in mein Hirn und meine Seele eingebrannt hatten, zu vergessen. Diese Fäulnis, die nie behandelt worden war, die man einfach weiterwuchern ließ und die dank der verbreiteten Weigerung, sich zu wehren, bestens gedieh. Da der abgestorbene Fuß nicht amputiert worden war, hatte die Infektion mittlerweile den gesamten Körper erfasst. Dieser Wundbrand manifestierte sich in Form von Bestechung, Politskandalen, Korruption, Schutzgeld, Drogen, Gewalt, Toten, Bomben, Schüssen, Luxus, Supermärkten, Ausschreibungen, Günstlingswirtschaft, Baustellen, Gift und Müll.
Die Emilia-Romagna und ihre alltägliche Normalität haben uns ein neues Leben ermöglicht. Die Entscheidung, damals aus der Not geboren, war richtig. Eine Flucht in die Freiheit. Natürlich hätten wir auch bleiben können. Wir hätten die Hilfe von Sebastiano Romeo, genannt »U Staccu«, dem verstorbenen Paten von San Luca annehmen und die abgefackelte Fabrik wieder aufbauen können. Wir hätten also die Hilfe von jemandem annehmen müssen, der uns ungefragt angeboten hatte, die Geschicke unserer Firma und unserer Familie in »gesunde Bahnen« zu lenken. Aber damit hätten wir die Mafia-Logik akzeptiert, die zum Brand der Fabrik und zum Tod meines Vaters führte.
Sie sind Aasfresser. Sie schaffen aus eigener Hand die Bedürfnisse, die sie hinterher befriedigen. Sie schüren die allgemeine Angst, verunsichern die Leute, um einem dann lächelnd vorzuschlagen, dass man sich durch entsprechende Zahlungen wieder Ruhe erkaufen kann. Durch die Mafia sind Ruhe und Ordnung inzwischen zur Handelsware geworden. Das Schutzgeld ist Mittel zum Zweck. Es ist die Leitwährung in diesem Geschäft. Die Opfer des Machtterrors, der Schlägertrupps eines »Don Rodrigo« Manzonischer Prägung, sind gezwungen, für eine Sache zu bezahlen, die eigentlich ihr Grundrecht ist: ihre Sicherheit.
1988 waren wir zu isoliert, um uns gegen die Clans in Bovalino zu wehren. Außerdem hatten wir schon vor dem möglichen Beginn eines solchen Kampfes unsere ersten Toten zu beklagen. Damals gab es noch keine Opfervereinigungen. Die Bevölkerung Kalabriens lehnte den Begriff ’Ndrangheta noch rundheraus ab, aus Furcht, die ganze Region werde mit diesem »seltsamen Wort« etikettiert. Es war eine beunruhigende Isolation. Angsteinflößend. Bedrohlich. Sie ließ uns einen weiten Weg gehen, weg von den Berggipfeln des Aspromonte und des Pollino, bis ins Alpenvorland nördlich der Apenninen.
Und wenn alles, was damals geschah, sich heute zugetragen hätte? Hätten wir heute den Mut, in unserem kleinen Dorf zu bleiben, umgeben von den Blumen und den Düften des Mittelmeers? Würden wir den Kampf aufnehmen? Fragen, die ich mir in letzter Zeit oft stelle, die aber letztlich nur hypothetischer Natur sind. Die Vergangenheit kann man nicht ändern. Wahrscheinlich ist es auch besser, dass es so ist. So kann sie uns immer wieder den Weg weisen, die früheren Fehler nicht erneut zu begehen, und uns an die erlittenen Untaten erinnern.
Als ich im Alter von elf Jahren in den Norden kam, dachte ich, bestimmte Realitäten und Machenschaften hätte ich endgültig hinter mir zurückgelassen. Es lag außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass viele süditalienische Mafiosi zu diesem Zeitpunkt längst konkrete Projekte zur Ausdehnung ihres Aktionsradius umgesetzt hatten. In Modena besuchte ich ab 1992 die weiterführenden Schulen. Ich verbrachte dort meine restliche Jugend, durchlebte die mit ihr verbundenen Grenzüberschreitungen. Schließlich
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