Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
kaum einer als süchtig bezeichnen würde – niemals auf dem Trockenen oder »auf dem Affen« sitzen, wie man im Szenejargon sagt.
Denn im Gegensatz zum Heroin isoliert einen
Bamba
oder
Barella
, wie man Kokain in Mailand bezeichnet, nicht. Es stellt einen nicht ins Abseits und schließt einen nicht aus. Im Gegenteil, es zieht seine Anbeter mitten rein ins bunte Leben, es trägt sie, es verbessert ihre Performance in jenem Boxring, in dem täglich der Wettkampf ums Überleben ausgetragen wird. Maurer, Arbeiter, Lkw-Fahrer, Manager, Rechtsanwälte, Politiker und Ärzte, alle vertrauen auf »das weiße Pulver«.
Kokain ebnet die sozialen Klassen ein. Es ist eine von vielen geschätzte Arznei, um Müdigkeit und Apathie zu verdrängen. »Vor zwanzig Jahren war das noch nicht so, da zogen sich nur die Reichen, die Unternehmer, die Rechtsanwälte sowas durch die Nase«, erklärt mir Giulio zu Beginn unserer Unterhaltung. Er ist Lkw-Fahrer und arbeitete jahrelang in einem der Vorzeigebetriebe der Modeneser Industrie. »Für alle anderen gab es Heroin und LSD. Zeug, das dich automatisch an den Rand der Gesellschaft befördert und es dir unmöglich macht, das vorgegebene Arbeitstempo zu halten. Als der Preis für Kokain plötzlich zu fallen begann, haben wir uns alle darauf gestürzt. Zu Lire-Zeiten kostete ein Gramm 200.000 [hundert Euro], heute bekommst du schon für fünfzig Euro ein
Piece
[ungefähr ein Gramm] mittlerer Qualität. Du kannst auch hundert dafür ausgeben, dann bekommst du zu neunzig Prozent reines Zeug. Ist aber schwer zu kriegen, außer du kaufst direkt an der Quelle, bei einem, der seinen Stoff von Kalabresen bezieht. Alle, die danach den Stoff weiterhandeln, strecken ihn, und du läufst Gefahr, irgendeine Scheiße zu kaufen, die dich umbringt. Sowas findest du für dreißig Euro das
Piece
, aber da packen die alles Mögliche rein, von Mannit bis Aspirin. Für vierzig Euro kriegst du ein
Piece
, das mit viel Amphetamin verschnitten ist. Das eignet sich am Besten für die Arbeit. Noch bessere Qualität besorg ich mir für die VIP-Partys am Wochenende, die wir in einer Wohnung, einer Villa oder einer Discothek rund um Bologna organisieren. Abgefahrene Partys. Da sind sie alle. Einmal hab ich dort einen Politiker getroffen, den ich aus den Nachrichtensendungen kannte. Ich versteh nichts von Politik, interessier mich auch nicht dafür, aber das Gesicht hab ich sofort erkannt. Und dann wer weiß wie viele Ärzte. Zum Beispiel einer aus Bologna. Hatte beste Verbindungen zu den Clans von San Luca, die sich hinterher alle über den Haufen geballert haben. Immer wieder fing er davon an, dass seine Freundin ziemlich reines Zeug direkt von den Pizzatas und Martès aus San Luca bezieht. Die wurden wenig später verhaftet, und dann kam raus, dass ihnen bis heute Pizzerien und Cafés im Zentrum von Bologna gehören. Dann waren noch jede Menge junger Rechtsanwälte bei unseren Feten. Das weiß ich, weil mich einer von denen mal vor Gericht verteidigt hat, als ich Probleme mit der Polizei hatte.«
In Giulios Welt existieren dank Kokain und Mafia keine Klassenunterschiede mehr. Doch das kam nicht von heute auf morgen. Verbündet mit den Dealern auf der Straße, eroberten die ’Ndrangheta-Clans nach und nach das Monopol für den Drogenhandel zwischen Turin und Mailand. Heute ist Norditalien ihr Hauptabsatzmarkt. Aber auch im Süden steigt der Kokainkonsum stetig an.
Selbst in einer Kleinstadt wie Bovalino sterben junge Menschen an Drogen. Mitte der siebziger Jahre fing es an. Ab 1978 überschwemmten die Clans aus dem nahegelegenen Küstenort Africo unser Dorf Bovalino und die übrige Region regelrecht mit Drogen. Die Clans aus Platì und San Luca zogen nach und stiegen ebenfalls in den extrem gewinnträchtigen Drogenhandel ein.
Eines der Opfer aus meinem Geburtsort war Alfio. Er brauchte binnen kurzem immer höhere Dosen. Zunächst wartete er noch darauf, dass ihm Dealer der Clans das Heroin nach Bovalino brachten. Doch kurz vor seinem Tod fing er an, selbst nach Africo zu fahren, um sich Nachschub zu besorgen. An einem Tag fuhr er hin, am nächsten kam er zurück. Das ging eine Weile so. Aber dieses Kommen und Gehen wurde in Africo, der Hochburg der ’Ndrangheta, nicht gern gesehen. Es missfiel speziell den Mafia-Bossen, die gerade mit ihren neuen Geschäften in der Lombardei beschäftigt waren und um jeden Preis verhindern wollten, dass in ihrem Heimatort lästige Gerüchte aufkamen.
Africo war das Reich von
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