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Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)

Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)

Titel: Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni Tizian
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Verlockung, einfach alles stehen und liegen zu lassen und anderswo neu anzufangen. Aber 1991 holte uns die Realität ein, der Traum von einem besseren und solidarischen Kalabrien war ausgeträumt.
    Meine Großmutter musste die Firma endgültig schließen. Drangsaliert von den Banken, Lieferanten und einer Kleinstadt, die sich bewusst blind stellte gegenüber dem moralischen Verfall, stand sie die entwürdigende Prozedur durch. Wir mussten erkennen, dass wir bis dahin in einem Ort voller Besiegter gelebt hatten, die mit dem Verstreichen der Tage, Monate und Jahre die Anomalie akzeptiert und als ethische Verhaltensregel verinnerlicht hatten. Die Mafia ist in Kalabrien heutzutage Normalität. Will man hier überleben und Teil der Günstlingswirtschaft bleiben, die über Privilegien, Gefälligkeiten und Rechte entscheidet, muss man sich erniedrigen und erniedrigen lassen.
    Der Alltag in »Mafia-Land« ist geprägt von kollektiver Verantwortungslosigkeit. Mit dem Ergebnis, dass man sich bereitwillig unterdrücken lässt und Gefälligkeiten vom gerade an der Macht befindlichen Paten oder der gerade führenden Mafia-Familie dankbar annimmt – passive Akzeptanz mafiöser Mechanismen, Gesetze und Handlungsnormen.
    Wer nicht bereit ist, blind Gehorsam zu leisten, wer sich weigert, dem unilateralen Machtvollzug zuzujubeln, dem bleibt nichts anderes übrig, als auszuwandern. Die Verbündeten mafiöser Machtstrukturen bezeichnen so jemanden gern als Flüchtling, Ausreißer, Feigling oder Schwätzer. Andere verwenden dafür den Begriff Emigrant, dessen schwermütige Konnotation sich nur demjenigen ganz erschließt, der dieses Schicksal teilen musste: Menschen, die sich gezwungen sahen, ihren Geburtsort zu verlassen, und die nicht selten vor Schmerz verkümmert sind, Männer und Frauen, die sich nichts weiter als ein normales Leben wünschten. Rechtschaffene Wesen, die unbehelligt von der Mafia ein selbstbestimmtes Leben anstrebten.
    Natürlich gibt es Menschen, die trotz allem dort bleiben. Deborah Cartisano aus Bovalino und Stefania Grasso aus Locri sind zwei Beispiele für das andere Kalabrien. Beide verloren ihren Vater durch Mordanschläge der ’Ndrangheta. Aber sie hatten den Mut, zu bleiben und gegen die Isolierung zu kämpfen, die eine narkotisierte Bevölkerung zugunsten des Status quo in Sachen Mafia über sie und ihre »lästigen« Erlebnisse verhängen wollte. Wir wählten einen anderen Weg – weder besser noch schlechter, einfach anders. Trauer lässt sich auf vielfältige Weise verarbeiten.
    Die uns aufgezwungene Entscheidung, unsere Zukunft neu, anders und anderswo zu gestalten, ließ unsere Wut, unsere Trauer noch einmal hochkochen. Die Mafia hatte uns zu Opfern gemacht und unser Leben beschädigt. Aber letztlich war es immer noch ein Leben. Und das Bewusstsein, trotz allem noch Herr über unser Schicksal zu sein, gab uns den Lebensmut zurück. Den Mut, uns zu entscheiden, uns aus dem Mafia-Sumpf herauszukämpfen, statt für immer darin steckenzubleiben.
    Unsere Zukunft zurückzugewinnen und sie wieder mit Normalität zu erfüllen, das war unser Ziel. Normalität, so viel stand fest, würden wir nur fern von Bovalino finden. In der Provinz Reggio di Calabria wäre es uns mit Sicherheit nie gelungen, unsere Würde während dieser dunklen Jahre zurückzuerlangen – falls wir überhaupt überlebt hätten.
    Also brachen wir auf in eine ungewisse Zukunft. Um wieder bei Null zu beginnen. Es ging Richtung Emilia-Romagna. Zielort Modena. Heimat von Motoren, Tortellini, Tortelloni, Balsamessig, Keramik, Kooperativen und Kommunisten. Eine gastfreundliche, solidarische Gegend, denkbar weit weg von jener Logik der Gewalt, mittels derer die Menschen der Region, aus der ich stamme, unterdrückt werden. Einer Region, die zur Geisel von Wenigen geworden ist und zum Gefangenenlager für viele. In Modena konnte ich endlich wieder ein ganz normaler Junge sein. Hier gelang es mir, einen Teil der verlorenen Jahre aufzuholen, die mir in jener Endlosigkeit aus Schmerz und Schweigen abhanden gekommen waren. Endlich fand ich einen Weg, die verwirrenden Bruchstücke, die mir von meiner Kindheit geblieben waren, wieder ansatzweise zusammenzusetzen.
    Aus dem tiefsten Süden kommend, irritierte mich, wie ordentlich es trotz aller Hektik und Dynamik in Modena zuging, dieser lebendigen Stadt voller Licht, Verkehr, Durcheinander, großer Gebäude, Ampeln, Kinos und Kilometern von Fahrradwegen. Normalität. Heute erscheint mir dieser Gedanke

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