Mafia AG: Camorra, Cosa Nostra und 'Ndrangheta erobern Norditalien (German Edition)
gesellschaftliche Zentrum jener Städte und Gemeinden vorzudringen, in denen sie aktiv sind. Dieses »soziale Kapital« setzt sich aus örtlichen Politikern und Unternehmern, Wissenschaftlern und Finanzexperten, Medizinern und Juristen zusammen. Im Norden wie im Süden, in Italien wie im restlichen Europa, auf der Nord- wie auf der Südhalbkugel ist es den Mafiosi gelungen, in ihren Zielgemeinden »anzukommen«. Sie sind dort nicht länger Fremdkörper, sondern akzeptierter Teil der Gesellschaft. Für den Rest sorgt das viele Geld der Clans, das bekanntlich nicht stinkt. Damit kaufen sie alles, nicht nur Immobilien, sondern auch Menschen.
1.
NACH NORDEN
Die Möbelfabrik stand lichterloh in Flammen. Brutal zerstörte die Feuersbrunst das Lebenswerk meines Großvaters Ciccio. Lange hatte er diesen Traum gehegt, ihn passioniert in die Tat umgesetzt. Und jetzt löste sich Ciccios Realität gewordene Vision in Rauch auf.
Mein Großvater war zeitlebens Idealist, möglicherweise ein bisschen naiv. Einer, der seinen Träumen nachhing. Und diese oft der Realität vorzog, vor allem, wenn sie von arroganten Männern reglementiert wurde, die sich kraft ihrer Zugehörigkeit zu einem Mafia-Clan als »Ehrenmänner« gerierten. Die kleine Küchenmöbelfabrik, die mein Großvater trotz unsäglicher Schwierigkeiten und ermüdender Geduldsproben aufzubauen geschafft hatte, fiel nun vor meinen schreckensgeweiteten Augen und unter den ungläubigen Blicken meiner gesamten Familie in sich zusammen.
Ein Anruf hatte uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen. Das Schrillen des Telefons war bedrohlich gewesen, von jener Art, die man nie wieder vergisst. Ein Schrillen, das den Tod eines Traums ankündigt und den Anfang einer Tragödie.
Wir rasten nach Sandrechi. Ein Weiler bei Bovalino, an der Straße nach Careri, Natile und Platì. Das Land ringsum gehört mächtigen ’Ndrangheta-Clans. Hier liegen die Hochburgen von Familien wie den Barbaros, Papalias, Sergis oder Perres. Schon an der Abzweigung Richtung Platì überfiel uns der Schrecken. Wir konnten die Zerstörung riechen, den Geruch von verbranntem Holz, unsere wider alle Wahrscheinlichkeit gehegten Hoffnungen zerstoben.
Die kleine Werkshalle glich einem Flammenmeer. Das Knarzen der brennenden Olivenholzbretter hörte sich an wie leise Hilferufe. Wie letzte Seufzer von zum Tode Verurteilten. Geräusche, die gerade noch hörbar waren und sich deshalb umso unauslöschlicher ins Gedächtnis brannten. Nichts schien die lodernde Wut der Flammen besänftigen zu können. Weder Wasser noch Schmerz, weder Mitleid noch Barmherzigkeit vermochten ihrem furchterregenden Treiben Einhalt zu gebieten. Verzweifelt wohnten wir der Niederlage, der Demütigung unseres Familienoberhauptes, der Vernichtung unserer Zukunft bei.
Die Brandursache stand schnell fest. Kein Zweifel, es handelte sich um einen vorsätzlichen Anschlag. Als die Flammen erloschen, begann in jedem von uns eine quälende Suche nach Antworten. Warum war es geschehen, wer steckte dahinter und mit welcher Absicht hatte man es getan? Berechtigte, richtige Fragen. Aber in Kalabrien werden daraus leicht rhetorische Fragen. Wahrheit und Gerechtigkeit an einem Ort zu erlangen, wo das Recht zu einem Privileg Weniger geworden ist, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wer sie einfordert, den kann es die Freiheit oder das Leben kosten.
Wir schrieben das Jahr 1988. In jenem Juli lag die übliche sommerliche Hitze über Bovalino, wie über dem ganzen Süden Italiens. Und wenn dann noch der Schirokko bläst, nimmt einem die Luftfeuchtigkeit an der Südostküste Kalabriens buchstäblich den Atem. Eine aggressive Schwüle legt sich übers Land, die einen unerbittlich in die Zange nimmt und einem regelrecht den Saft aus dem Fleisch saugt. Genau wie die ’Ndrangheta. Die hat die Lebensadern Kalabriens schon früh angezapft und labt sich an ihnen – bis heute. Damit nimmt sie der Region ihre Energie, ihre Würde.
Kalabrien glich damals dem Dschungel, einem Kriegsgebiet, in dem das Recht des Stärkeren galt. In den achtziger Jahren schlossen dort nur die wenigsten Leute eine Versicherung ab. Mein Großvater hatte auf seine Arbeit und auf die Menschen um ihn herum vertraut. Viele Nachbarn aus Bovalino arbeiteten für ihn. Ehrliche Menschen, bedrückt von der Arbeitslosigkeit und den Verhältnissen hier. Es gab keinen Versicherungsschutz für sein kleines Unternehmen. Ob das daran lag, dass niemals zuvor einer nötig gewesen war?
Auch die Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher