Mafiatochter
hatte ich mich an die Bundesbehörden und ihre Beobachtungsfahrzeuge gewöhnt, doch in den vergangenen Wochen waren sie meinem Vater auf Schritt und Tritt gefolgt. Inzwischen war ich mir der Tatsache voll bewusst, dass Papa der Unterboss der Familie Gambino war. Zum ersten Mal spürte ich, wie seine Welt unsere gesamte Existenz bestimmte. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es auch meine Welt war, wie sehr er sich auch bemühte, uns davon abzuschirmen. Trotzdem wusste ich immer noch wenig darüber.
Papa sagte, er werde sich vor den Bundesbehörden verstecken, erklärte jedoch nicht, warum. Erst später erfuhr ich, dass ihm John Gotti geraten hatte, unterzutauchen.
Gotti hatte erfahren, dass gegen meinen Vater, Frank Locascio und ihn selbst Klage erhoben werden sollte. Die drei Männer sollten wegen Mordes an gleich fünf Männern verhaftet werden: Paul Castellano; Thomas Bilotti, Pauls Unterboss, der zusammen mit Paul vor dem Sparks Steak House exekutiert worden war; Robert »DB« DiBernardo, ein Capo der Familie Gambino, dem man 1986 zwei Mal in den Kopf geschossen hatte; Liborio Milito, ein 1988 spurlos verschwundener Gambino-Soldat, dessen Leiche man nie gefunden hatte; und schließlich Louie DiBono, ein weiterer Soldat der Familie Gambino, der 1990 auf dem Parkplatz des World Trade Center erschossen wurde, weil er den Befehl, sich mit John Gotti zu treffen, nicht befolgt hatte. Neben den Mordanklagen hatte Gotti auch eine Anklage wegen organisierter Kriminalität zu befürchten.
Das FBI hatte ein Zimmer über dem Ravenite Social Club in der Mulberry Street verwanzt und Gespräche zwischen meinem Vater, John und Frankie DeCicco aufgezeichnet, durch welche sie die drei Männer mit den Morden in Verbindung brachten. Gotti glaubte, dass sie einer Verhaftung entgehen könnten, wenn mein Vater verschwände.
Als Gerard und ich das Schlafzimmer betraten, war Mama schon dort. Er sagte uns nicht, warum er fliehen wollte. Er dachte wohl, je weniger wir wüssten, desto besser wäre es. »Ihr werdet ein paar Sachen in der Zeitung lesen, aber ihr müsst mir einfach vertrauen. Mir wird schon nichts passieren.« Wir stellten keine Fragen und gingen nach oben ins Bett. Einige Stunden später kam Papa in mein Zimmer und gab mir einen Kuss. »Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe«, flüsterte er. »Wenn du etwas brauchst, sind Onkel Eddie, Big Louie und die Anderen für dich da.« Big Louie war Papas Freund Louie Valario.
Ich fragte meinen Vater, wann er zurückkomme. Er hielt inne, sah mich eine Weile lang an und sagte: »Ich weiß es nicht.«
Als ich ein Kind war, sagte mein Vater immer: »Mach’ mal eine Faust.« Dann ließ er uns in seine Handfläche boxen und sagte: »Siehst du? Wenn du eine Faust machst und die Hand sicher führst, macht dich das stark. So ist es auch mit unserer Familie. Wenn wir immer wie eine Faust fest zusammenhalten, werden wir auch immer stark sein, und nichts wird uns je trennen können.«
Ob ich Sport trieb oder einen Preis bekam, krank wurde oder mich verletzte – dies war seine Art, mich wissen zu lassen, dass er mich unterstützte. Er wollte, dass ich stark blieb. Er deckte mir den Rücken, wir waren eins. Dieses Signal war seine Art, mir ohne große Worte zu sagen, dass alles in Ordnung kommen werde.
In jener Nacht fand ich keinen Schlaf. Ich fragte mich, wohin er wohl gehen würde. Als ich am nächsten Morgen aufstand, war er fort. Einen Monat lang sah und hörte ich nichts von ihm. Er rief nicht an. Meine Mutter sprach nicht darüber, aber ich konnte sehen, wie leer sie sich fühlte. Ich kam jeden Tag nach Hause und schaute in sein Zimmer, um zu sehen, ob er wieder da war. Ich fragte mich, ob das wohl für den Rest meines Lebens so weitergehen würde. Nicht zu wissen, was geschah, war schlimmer als alles Andere. Dann begannen die Zeitungen zu spekulieren, dass Sammy the Bull möglicherweise tot sei.
Ich ging sofort zu meiner Mutter. »Mama, stimmt das?«, fragte ich sie. »Ist Papa tot?«
»Nein, es geht ihm gut«, versicherte sie mir.
»Hast du mit ihm gesprochen?«
Ja«, antwortete meine Mutter. Eigentlich hatte sie nicht mit ihm gesprochen, aber irgendwer hatte eine Nachricht übermittelt.
»Kommt er jemals wieder nach Hause?«
»Ich weiß es nicht«, entgegnete sie.
»Ich verstehe das nicht«, sagte ich. »War’s das? Ist das jetzt das Ende?«
»Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, weil ich es selbst nicht ganz verstehe«, sagte Mama.
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