Magazine of Fantasy and Science Fiction 10 - Wanderer durch Zeit und Raum
haben Leute wie George und ich sofort zu handeln, denn die Gelegenheit ist günstig, kleinere Diebe zu fangen. Wie in einem aufgewühlten Teich suchen sie nach Deckung, denn die Polizei arbeitet nun intensiver denn je zuvor.
George de Staël erhob sich, kam um den Tisch herum und klopfte mir auf die Schulter. Er trug einen seidenen Sommeranzug, obwohl es eigentlich dafür noch zu früh war. Sein schwarzes Haar war zurückgestrichen und lag glatt an. Er lächelte mit spitzbübischem Charme.
»Mein lieber Freund«, sagte er, »ich kann dir versichern, daß man das Bild tatsächlich gestohlen hat. Ausnahmsweise schreiben die Zeitungen diesmal die Wahrheit. Was noch bemerkenswerter ist, der Dieb hat sogar das echte Gemälde gestohlen, keine Reproduktion.«
»Ich weiß nicht, ob ich froh sein soll, das zu hören, oder nicht«, erwiderte ich. »Sicherlich soll das eine Anspielung auf den Louvre und die Nationalgalerie sein.«
»Stimmt genau«, gab George zu und lachte. »Ich hegte die Hoffnung, einige Autoritäten würden nach der Katastrophe mit der Wahrheit über ihre sogenannten Schätze herausrücken und den Ruhm Leonardos schmälern, aber ich scheine mich geirrt zu haben.«
Wir unterhielten uns eine Weile darüber, welche Auswirkungen solche Geständnisse auf den internationalen Kunstmarkt haben könnten, waren uns aber einig in der Tatsache, daß die Bewunderung der Welt für den gestohlenen da Vinci dadurch nicht herabgesetzt werden konnte.
»Eine Frage«, sagte ich schließlich und tat so, als erwarte ich eine Antwort, »wer hat die ›Kreuzigung‹ eigentlich gestohlen?«
George betrachtete mich sekundenlang, dann zuckte er die Achseln.
»Ich weiß es wirklich nicht, Charles. Es ist ein Geheimnis, und ich bin genauso ratlos wie du oder jeder andere.«
»Dann war es jemand, der in enger Verbindung mit dem Louvre steht.«
»Ganz bestimmt nicht. Die Leute dort sind über jeden Verdacht erhaben.« Er deutete auf sein Telefon. »Ich habe Antweiler in Messina und Kokoschka in Beirut angerufen. Sie wissen auch nichts. Sie sind sogar davon überzeugt, daß die Regierung dahintersteckt oder der Kreml.«
»Der Kreml?«
Ich war mehr als nur verwundert.
In der folgenden halben Stunde sprachen George und ich nur im Flüsterton miteinander.
Die Konferenz im Palais de Chaillot am selben Nachmittag brachte keine Neuigkeiten. Carnot, Chefinspektor der Polizei von Paris, sah müde und abgespannt aus. Seine Mitarbeiter des Deuxième Bureau waren nicht besser dran. Sie waren hundert Spuren gefolgt und hatten nichts gefunden. An der Zusammenkunft nahmen auch die Herren von Lloyds in London und des Morgan Guaranty Trusts von New York teil. Sie saßen kühl und nüchtern zwischen den Polizisten. Ganz anders benahmen sich die zweihundert Kunsthändler und Agenten, die im Zuschauerraum Platz genommen hatten und sich lebhaft unterhielten, Vermutungen äußerten und pausenlos diskutierten.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der Ereignisse stellte Carnot zwei Herren vor. Zuerst einen massigen Holländer, den Superintendenten Jurgens von der Interpol in Den Haag. Dann einen gewissen Auguste Pecard. Allein das bewies, daß die Sicherheitsvorkehrungen im Louvre über jeden Zweifel erhaben gewesen waren. Es bewies aber gleichzeitig auch, daß der Diebstahl unmöglich stattgefunden haben konnte. Ich sah Pecards Gesicht an, daß er genausowenig daran glaubte wie ich.
»... sind nachweisbar die Druckplatten in der Umgebung des Gemäldes zu der Zeit des Raubes nicht betreten worden, noch wurden die Infrarotstrahlen unterbrochen. Außerdem versichere ich Ihnen, daß es ausgeschlossen ist, das Gemälde zu stehlen, ohne den Bronzerahmen zu entfernen. Er allein wiegt achthundert Pfund und ist mit Stahlbolzen in der Wand befestigt. Auch der Stromkreis der elektrischen Alarmanlage, der durch die Bolzen fließt, ist nicht unterbrochen worden ...«
Ich betrachtete die beiden lebensgroßen Fotografien von dem Gemälde und seine Absicherungen. Die Bolzen waren deutlich zu erkennen. Sogar das Datum der letzten Reinigung war zu lesen. Das Gemälde wurde alle zwei Jahre zur Reinigung abgenommen, dann wieder befestigt und versiegelt. Zuletzt war das zwei Tage vor dem Diebstahl geschehen.
Als das bekannt wurde, veränderte sich die gespannte Atmosphäre im Saal. Die privaten Diskussionen verstummten. Seidene Taschentücher verschwanden wieder. Ich stieß George an.
»Ich denke, das erklärt alles«, flüsterte ich ihm zu. Mir war plötzlich
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