Magazine of Fantasy and Science Fiction 10 - Wanderer durch Zeit und Raum
dunkelhäutiges Gesicht auf – ein Mann mit einem Kinnbart in mittelalterlicher Kleidung.
George legte sechs der Vergrößerungen so, daß ich sie besser erkennen konnte.
»Du kennst sie natürlich?«
Ich nickte. Mit der Ausnahme von Rubens »Pieta«, die sich in Leningrad befand, hatte ich alle Gemälde im Original gesehen. Außer der verschwundenen »Kreuzigung« erkannte ich die Kreuzigungsszenen von Veronese, Goya, Holbein und Poussin. Diese Bilder, wußte ich, hingen im Louvre, in San Stefano, im Prado und im Ryksmuseum von Amsterdam. Alle waren sie bekannt, unbedingt echt und die Glanzstücke ihrer Aussteller.
»Schön, sie wiederzusehen. Sie sind in guten Händen. Ich hoffe nicht, daß sie auf der Einkaufsliste unseres großen Unbekannten stehen.«
»Ich glaube nicht, daß er daran interessiert ist.« George schüttelte den Kopf. »Er wird sie natürlich im Auge behalten. Übrigens, fällt dir sonst nichts auf?«
»Es handelt sich in allen Fällen um Darstellungen der Kreuzigung«, sagte ich, nachdem ich erneut einen Blick auf die Bildersammlung geworfen hatte. »Was sonst noch?«
»Alle wurden einmal gestohlen«, sagte George. »Der Poussin im Jahr 1822 aus der Loire-Sammlung, der Goya 1806 aus dem Kloster Monte Cassino, der Veronese 1891 aus dem Prado, der Holbein 1945 und der Leonardo, wie wir wissen, vor vier Monaten aus dem Louvre.«
»Das ist zwar interessant, aber es gibt nur wenig Meisterwerke, die nicht einmal irgendwo irgendwann gestohlen und dann wiedergefunden wurden. Hoffentlich ist diese Tatsache nicht der Schlüssel zu deiner Theorie.«
»Nein, aber im Zusammenhang mit einem anderen Faktor gewinnt sie an Bedeutung.« Er reichte mir die Reproduktion des Leonardo. »Sieh sie dir genau an. Merkst du etwas?« Ich nahm das Foto und betrachtete es. Als ich den Kopf schüttelte, gab er mir ein zweites Foto. Es schien das gleiche zu sein. »Nun, und was ist damit?«
Der einzige Unterschied lag darin, daß die beiden Aufnahmen aus einem anderen Winkel gemacht worden waren, sonst hätten sie identisch sein können.
»Es sind Fotos der ›Kreuzigung‹ aus dem Louvre«, erklärte George, »hergestellt etwa vier Wochen vor dem Diebstahl.«
»Ich gebe es auf«, gab ich zu. »Ich kann keinen Unterschied feststellen. Nein – warte.« Ich zog die Tischlampe näher heran und beugte mich über die Fotos. »Doch, ein winziger Unterschied ist da. Was hat das alles zu bedeuten?«
Der Unterschied fiel nicht sofort ins Auge. Ich mußte alle Einzelheiten der beiden Bilder miteinander vergleichen, um ihn zu spezifizieren. Dann fand ich ihn. Eine der Gestalten war verändert worden. Sie stand in der Mitte der gaffenden Menge, auf der linken Seite, wo die Prozession sich den drei Kreuzen auf Golgatha näherte. Die Gesichter auf beiden Fotos waren verschieden; eins war geändert worden.
Der Mann befand sich am Rand der unteren Hügel. Er war kräftig gebaut und trug eine schwarze Robe; man sah ihm an, daß Leonardo sich besondere Mühe mit ihm gegeben hatte. Die gleiche Sorgfalt war man von ihm an seinen Engeln gewohnt. Das Foto in meiner linken Hand gab die unretouchierte Originalversion wieder. Kein Zweifel, Leonardo hatte in der Gestalt einen Todesengel sehen wollen, eine jener düsteren Figuren des Unterbewußtseins, der tödlichen Drohung und der unmißverständlichen Warnung.
Das Gesicht war bemerkenswert. Fast sah man nur sein Profil, über die Schulter hinweg. Es schaute zum Kreuz empor, und in den dunklen Augen schimmerte ein Funke von Mitleid. Eine hohe Stirn stand über der wohlgeformten, semitischen Nase. Um die Lippen spielte ein verständnisvolles Lächeln, etwas resigniert. Der Rest des Gesichtes lag im Schatten der aufgezogenen Gewitterwolken. Auf dem rechten Foto war ein anderes Gesicht.
Es drückte einen ganz anderen Charakter aus. Das Übernatürliche blieb, aber der Ausdruck des Mitgefühls war verschwunden. Der spätere Künstler hatte sogar die Haltung des Kopfes geändert. Das Gesicht sah nicht mehr zum Kreuz empor, sondern über die Schulter hinweg in Richtung der Stadt Jerusalem. Während die Menge das Kreuz nicht aus den Augen ließ, sah er weg, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen. Die Nackenmuskeln verrieten, daß er sich mit Gewalt von dem schauerlichen Schauspiel abgewandt hatte.
»Was ist das für ein Bild?« fragte ich und deutete auf die Fotografie in meiner rechten Hand. »Die Kopie eines Schülers? Ich sehe nicht, wieso das ...«
George lehnte sich vor und deutete
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