Magdalenas Garten
Eingeweiden grummelte es nervös. Mühsam setzte sie sich auf. Ich muss ihn suchen, ich muss mich bei der Treva melden, ich muss mich bei Nina bedanken und die Fahrt nach Forte dei Marmi organisieren. So viel war zu tun, doch sie fühlte sich seltsam kraftlos, sie konnte noch nicht mal eine Faust machen, ihre Hände kribbelten unangenehm. Vorsichtig stand sie auf, schlüpfte in einen dünnen weiÃen Bademantel, der am Kleiderschrank hing, und öffnete die Tür so weit, wie das Bett es zulieÃ. Das Erste, was sie sah, war ein schmales Feldbett, Kissen, Laken, Wolldecke, ordentlich umgeschlagen und festgesteckt, mit einem winzigen Fernseher am FuÃende, auf dem eine gigantische Antenne balancierte. Alles war still. Magdalena bugsierte sich mit ihrem verpackten Bein umständlich durch den Türspalt und stand in einer Küche.
»O Mann, hier schläft ja auch noch jemand â¦Â«, flüsterte sie vor sich hin, während sie behutsam einen Fuà vor den anderen setzte, »scheint nicht genügend Zimmer zu geben.« Unter dem Verband juckte es, er war zu stramm gewickelt und schnürte ihr das Blut ab. Der vogelgesichtige Doktor im Krankenhaus hatte gestern nur Augen für Nina gehabt und ihr ausführlich von seiner Reise in die Karibik erzählt. Genüsslich hatte er das Wort in
die Länge gezogen: Ca-raiii-bi! Mindestens zehnmal hatte er es wiederholt und bei jedem Ca-raiii-bi! eine weitere Mullverbandschlaufe um Magdalenas Bein gezurrt. Was für ein Angeber! Aber Nina hatte ihn total ignoriert, Magdalena lächelte bei der Erinnerung.
Ein Gefühl von Schuld kroch in ihr hoch, es war ihr unangenehm, Stefan am letzten Tag der Toskanareise mit den 38 Gästen und Resi allein zu lassen. (Städtefahrt nach Pisa und Lucca, Stadtführung vor Ort, wundervolle Panoramafahrt, Abendessen im Hotel.) Statt auf den Schiefen Turm und eine Menge Touristen schaute sie an diesem Morgen auf einen Kühlschrank, der verhalten vor sich hin brummte, und auf einen von sechs Plastikstühlen umstellten alten Holztisch, der mitten im Raum stand. An der gegenüberliegenden Wand konnte man durch eine halb offene Flügeltür auf eine Terrasse sehen. Magdalena hinkte weiter, die Fliesen aus Terrakotta fühlten sich wunderbar kühl unter ihren FuÃsohlen an, und mit einem Mal fand sie Gefallen an dem Gedanken, der Gruppe entkommen zu sein. (Meiner Frau sind ihre Herztabletten aus dem Zimmer gestohlen worden, gestern waren sie noch da - Es hat heute wieder keinen Tee zum Frühstück gegeben, der Kaffee hier in Italien ist zu stark für unsereins - Der Mann vor mir im Bus redet immerzu, ich brauche einen anderen Platz.) Vor dem Spülbecken stand eine gemauerte Theke, der Gaskocher auf der Marmorabdeckung badete mit seinen eisernen FüÃchen in einer Pfütze aus Kaffeepulver und Wasser. Niemand war zu hören oder zu sehen, die restlichen drei Zimmertüren, die Magdalena zählte, waren geschlossen. Sie war allein und trotz Hinkebein bereit, auf Entdeckungstour zu gehen. Als Kind hatte sie es geliebt, nach dem Unterricht in der Grundschule herumzustreunen. Sie wohnten direkt nebenan, im alten Schulhaus aus dem Jahr 1899, in dessen Grundriss noch Stall und Schweinekoben eingezeichnet
waren, der heutige Flur und das Wohnzimmer. Sie trödelte alleine durch die Klassenzimmer, Flure und Gruppenräume oder folgte Opa Rudolf, wenn er Lampen austauschte und verstopfte Waschbecken reparierte. Er zeigte ihr, wie man Türscharniere ölte und Hecken beschnitt, und sie achtete auf seinen groÃen Schlüsselbund, den er dauernd verlegte. Sie hatten immer aufeinander aufgepasst und waren ein gutes Team.
»Gewesen!«, sagte sie halblaut in die Küche und sah sich suchend um. Welche der drei Türen führte wohl ins Badezimmer? Magdalena klopfte zaghaft an die schmalste von ihnen und probierte, die Klinke herunterzudrücken. Richtig, es roch nach Chlor wie in einer Badeanstalt und war winzig klein, aber ein Bidet gab es natürlich - wie überall in Italien - und eine von diesen Sitzbadewannen, in denen man sich nicht ausstrecken konnte. Sie benutzte die Toilette und versenkte den Blick beim anschlieÃenden Händewaschen in ihre Augen, die ihr aus dem Spiegel unter blassen Wimpern entgegenschauten. Flusskieselgrau nannte Rudi ihre Augenfarbe. Sie biss die Zähne zusammen. Nie hatte er auf ihre Fragen eine Antwort gegeben, sondern war jedes Mal in
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