Magdalenas Garten
verzogen, doch sein Mund mit den spitzen Eckzähnen eines Wolfes und dem rosa Zahnfleisch schien sie geradezu verschlingen zu wollen.
»Wann hast du es noch mal gefunden?«
»Das Foto? Vor zwei Jahren, direkt an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag im Tischlerschuppen. In einem alten Buch von Oscar Wilde.« Magdalena starrte auf ihre nackten FüÃe.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren ihr GroÃvater und sie wirklich ein gutes Team gewesen. Doch das Foto hatte eine Krise in ihr ausgelöst, sie hatte mit einem Mal das untrügliche Gefühl gehabt, die Hälfte ihres Lebens sei vorbei. Und dieses bereits halb verflossene Leben hatte sie ohne ihren Vater verbracht und noch nicht mal nach ihm gesucht. Sie erinnerte sich plötzlich, dass sie früher sogar von ihm geträumt hatte. Auf einmal konnte sie nicht mehr schlafen: Wer war für ihre hellgrauen Augen verantwortlich, für ihre Wutanfälle, für ihre familienuntypischen stummeligen Zehen, die andere Hälfte ihrer Gene? Sie tat etwas, was sie zuvor nie gewagt hatte: Sie begann nach ihm zu fragen.
Opa Rudi wehrte ab, wie immer, Italien war von jeher kein gutes Thema in seiner Familie gewesen. Rudolfs Vater war 1941
als Soldat in den Abruzzen von einem Kameraden, der ihn für einen Partisanen hielt, erschossen worden, nur wenige Wochen vor Rudolfs Geburt. Ein Umstand, den der kleine Rudi den Italienern sehr übel nahm und der ihn bis heute auf sie schimpfen lieÃ. Magdalenas Vater stamme aus diesem Land, ausgerechnet!, mehr wisse man nicht.
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»Er schaut gut aus!« Nina sah Magdalena an, ihr Kopf dicht neben ihrem. »Sehr gut sogar, und deine Mutter auch. Die sehen ziemlich verliebt aus. Wie alt ist sie auf dem Foto?«
»Neunzehn.«
»Er scheint auch nicht viel älter zu sein, schau dir mal sein Hemd an, voll die Siebziger, ist jetzt wieder total in!«
Magdalena nickte. »Ja, das war im Sommer neunzehnhundertneunundsiebzig. Ich habe oft von ihm geträumt und ihn furchtbar vermisst, obwohl ich ihm ja nie begegnet bin. Aber das habe ich Opa Rudi nie erzählt.«
»Warum hast du nicht so lange gebohrt, bis er endlich damit rausgerückt ist, irgendwas weià er doch sicher!« Nina schaute von dem Foto auf Magdalenas Mund, ihre Nase und wieder zurück auf das Foto. Das hatte Magdalena selbst auch schon getan, hatte nach Spuren von sich in den Gesichtern der beiden gesucht, die Augenbrauen, die Zähne verglichen, die Höhenlinien seiner Nase vermessen, die bei wohlwollender Betrachtung eine gewisse Ãhnlichkeit mit ihrer langen Sprungschanzennase aufwies.
Magdalena zuckte mit den Schultern. Als Kind hatte sie natürlich wissen wollen, ob sie auch einen Papa habe wie die, die manchmal vor der Schule zum Abholen ihrer Kinder herumstanden. Doch sie hatte ja keinen richtigen Schulweg, sie ging einfach nur durch das Gartentürchen, und schon stand sie auf dem Pausenhof. Einen Papa brauchte sie dafür wirklich nicht.
Alle anderen Fragen wurden von Oma Witta liebevoll in Richtung Mama Heidi umgeleitet. Sie hatte sich stundenlang mit ihr zusammen Fotos angeschaut und Geschichten dazu erzählt. Magdalena hatte jedes Foto in dem Album genau studiert und ihre Lieblingsbilder ausgewählt: das, auf dem Heidi sich mit dem viel zu groÃen Korb beim Ostereiersammeln abkämpft, das, wo sie ganz blass vor einem Topf mit Brei sitzt und nicht essen will, und das von ihrem ersten Schultag, mit Zuckertüte und im kurzen Kleidchen, unter dem man die Beine ihres wollenen Schlüpfers hervorblitzen sieht. âºHeidis Einschulung am 10. 09. 1966â¹ stand in Oma Wittas Handschrift darunter. Manchmal, wenn sie dachten, Magdalena könnte es nicht hören, hatten sich ihre GroÃeltern zwei Wörter wie ein Paar kurz vor dem Explodieren stehender Granaten zugeworfen. »Der. Italiener.« Sie tickten verhängnisvoll zwischen ihnen, doch Magdalena spürte, dass sie daran nicht rühren durfte, und hatte sie niemals durch Fragen hochgehen lassen. In der Pubertät dann, allein mit Opa Rudolf, verwirrt, wütend, aber doch vereint in der Trauer über Oma Wittas Tod, sprach sie erst recht nicht von ihrem Vater.
»Er wurde immer so traurig, wenn die Rede auf Heidi kam«, sagte sie zu Nina. »Und als er dann vor ein paar Jahren die Gehirnblutung hatte, habe ich gedacht, jetzt musst du ihn erst recht schonen, denn was ist, wenn er stirbt? Dann bin ich ganz allein! Ich habe dann
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