Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
ihr so zu verraten, dass sie ein heikles Thema berührte. Sie würde jetzt nicht mehr locker lassen und bohren, bis auch seine Mutter Gegenstand der Unterredung war. Es sei denn ... es sei denn, er drehte den Spieß um und schockierte sie so, dass sie das Thema aus Scham fallen ließ.
„Mein Vater hat oft Frauen mit nach Hause gebracht. Er ließ mich sogar zusehen. Manchmal ließen mich die Frauen auch mitmachen. Welcher Dreizehnjährige kann schon von sich behaupten, dass ihm eine Frau den Schwanz gelutscht hat, während sein Vater sie von hinten bumste?“
Da war er - der Ausdruck der Schocks, gleich würde der des Bedauerns folgen. Lustig, welche Macht die Wahrheit hatte. Ein Klopfen an der Tür ließ sie beide zusammenfahren. Er starrte ins Leere, wie es sich für einen guten blinden Scheißkerl gehörte.
„Verzeihen Sie die Störung“, rief ihre Sekretärin von der Tür. „Das Telefonat, das Sie erwarten, ist auf Leitung drei.“
„Ich muss diesen Anruf entgegennehmen, Mr. Harding.“
„Schon okay.“ Er stand auf und tastete nach seinem Stock. „Vielleicht sollten wir es für heute gut sein lassen.“
„Sind Sie sicher? Das Telefonat dauert nicht lang.“
„Ich bin erschöpft. Außerdem glaube ich, Sie haben Ihr Geld heute sauer verdient.“ Er belohnte sie mit einem Lächeln, damit sie nichts weiter einwandte. Er war schon an der Tür, ehe sie anbieten konnte, seinen angeblichen Fahrer anzurufen. Als er am Lift wartete, kochte der Zorn jedoch in ihm hoch. Er verabscheute es, an seine Eltern erinnert zu werden, und sie hatte kein Recht, das Thema zu berühren. Sie hatte ihre Grenzen überschritten. Ja, heute war Dr. Gwen Patterson zu weit gegangen.
48. KAPITEL
Der stellvertretende Direktor Cunningham hatte ihnen einen kleinen Konferenzraum im Erdgeschoss organisiert. Tully war so begeistert, Fenster zu haben - mit Blick zum Wald am Rande des Trainingsgeländes -, dass es ihm nichts ausmachte, Treppen zu steigen und zum anderen Ende des Gebäudes zu laufen, um Sachen aus seinem voll gestopften Büro zu holen.
Er breitete alles an Dokumenten aus, was sie in den letzten fünf Monaten gesammelt hatten, und O’Dell folgte ihm ins Zimmer. Sie beharrte darauf, die Unterlagen in ordentlichen Stapeln auf demKonferenztisch aufzureihen, damit von links nach rechts eine chronologische Reihenfolge entstand. Das amüsierte ihn eher, als dass es ihn irritierte. Okay, fest stand, sie gingen ganz verschieden an Puzzles heran. Sie begann mit den Eckstücken und arbeitete sich zur Mitte des Bildes vor, er begutachtete alle Stücke und fischte sich heraus, was zusammenpasste. Kein Weg war richtig oder falsch. Es war schlicht eine Frage der Vorlieben. Allerdings bezweifelte er, dass O’Dell seiner Einschätzung zustimmen würde.
Sie hatten eine Karte der Vereinigten Staaten an die Wand gepinnt und die Morde in Newburgh Heights und Kansas City mit roten Nadeln gekennzeichnet. Blaue Nadeln markierten die anderen siebzehn Gebiete, in denen Stucky Opfer hinterlassen hatte, ehe er letzten August geschnappt worden war. Das waren nur die Opfer, von denen sie wussten. Die Frauen, die Stucky seiner Sammlung einverleibt hatte, waren oft in entlegenen Waldgebieten begraben worden. Man fürchtete, dass noch etwa ein Dutzend verborgene Leichen auf Entdeckung durch Wanderer, Angler oder Jäger warteten. Alle diese Verbrechen hatte Stucky in weniger als drei Jahren begangen. Tully mochte gar nicht daran denken, was dieser Verrückte in den letzten fünf Monaten angestellt hatte.
Er prüfte weiter die Landkarte und ließ O’Dell die Organisationsarbeit machen. Stucky war größtenteils im östlichen Teil der Staaten geblieben von Boston im Norden bis nach Florida im Süden. Die Küste Virginias schien ein fruchtbarer Boden für ihn zu sein. Kansas City war offenbar der einzige Ausrutscher gewesen. Falls Tess McGowan tatsächlich von ihm verschleppt worden war, bedeutete das, Stucky spielte wieder mit O’Dell und bezog sie als Komplizin in seine Verbrechen ein. Da er nur Frauen auswählte, mit denen sie flüchtig Kontakt hatte, nicht etwa Freunde oder Verwandte, war es praktisch unmöglich vorauszusehen, wann er wieder zuschlug.
Konnten sie überhaupt etwas tun? O’Dell einsperren, bis sie Stucky gefasst hatten? Cunningham ließ sie und ihr Haus von mehreren Agenten bewachen, und Tully war erstaunt, dass O’Dell noch nicht protestiert hatte.
Samstagmorgen, und sie stürzte sich in die Arbeit, als wäre ein normaler
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