Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
Arbeitstag. Nach der anstrengenden Woche, die sie hinter sich hatte, lägen andere noch im Bett. Allerdings bemerkte er, dass sie heute Morgen die dunklen Ringe und Schwellungen unter den Augen nicht mit Make-up kaschieren konnte. Heute trug sie zur verwaschenen Jeans alte Nike-Laufschuhe und ein Karohemd mit aufgekrempelten Ärmeln, das sie ordentlich in den Hosenbund gesteckt hatte. Obwohl sie sich in einem gesicherten Gebäude befanden, behielt sie das Schulterholster mit der 38er Smith & Wesson um. Verglichen mit O’Dell kam er sich fein gemacht vor, bis Cunningham vorbeischaute, so frisch, adrett und faltenfrei wie immer. Erst da bemerkte Tully die Kaffeeflecken auf seinem weißen Hemd und seine gelockerte, schief hängende Krawatte.
Tully sah auf seine Armbanduhr. Er hatte Emma einen gemeinsamen Lunch und ein umfassendes Gespräch über diesen Schulball versprochen. Sie mochte ihn engstirnig schimpfen, wenn sie wollte, doch er war überzeugt, dass sie noch nicht alt genug war, mit Jungen auszugehen. Vielleicht nächstes Jahr.
Er warf O’Dell einen Blick zu, die sich über die Berichte beugte, die sie von Keith Ganza erhalten hatten. Ohne zu ihm aufzusehen, fragte sie: „Hatten Sie Glück bei der Security am Flughafen?“
„Nein, aber da Delores Heston jetzt eine offizielle Vermisstenanzeige gemacht hat, können wir eine Suchmeldung nach dem Wagen rausgeben. Ein schwarzer Miata ist wohl kaum zu übersehen. Aber ich weiß nicht recht. Was, wenn diese McGowan sich nur ein paar Tage freigenommen hat?“
„Dann verderben wir ihr den Urlaub. Was ist mit dem Freund?“
„Der Typ hat ein Haus und ein Geschäft in Washington und ein weiteres Haus und ein Büro in Newburgh Heights. Ich habe Mr. Daniel Kassenbaum endlich gestern Abend in seinem Countryclub aufgestöbert. Er wirkte nicht sehr besorgt. Er sagte sogar, er habe vermutet, dass McGowan ihn betrügt. Dann fügte er rasch hinzu, dass ihre Beziehung aber keinerlei Verpflichtung beinhalte. So drückte er sich aus. Also, wenn seine Vermutung stimmt, ist sie vielleicht nur mit einem heimlichen Geliebten abgehauen.“
O’Dell sah zu ihm hin. „Wenn der Freund glaubt, sie betrügt ihn, dürfen wir dann davon ausgehen, dass er nichts mit ihrem Verschwinden zu tun hat?“
„Ich glaube wirklich, dass der Typ sich nicht viel darum schert, ob sie treu ist oder nicht, solange er kriegt, was er haben will.“ O’Dell sah ihn verblüfft an, und Tully spürte bei diesem heiklen Thema Emotionen in sich hochkochen. Kassenbaum erinnerte ihn zu sehr an den Mistkerl, für den Caroline ihn verlassen hatte. Trotzdem fügte er hinzu: „Er sagte mir, er habe Tess McGowan das letzte Mal Dienstagnacht gesehen, als sie bei ihm in Newburgh Heights geblieben war. Also, wenn dieser Typ glaubt, dass sie ihn betrügt, warum bittet er sie dann immer noch, über Nacht bei ihm zu bleiben?“
O’Dell zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Warum?“
Er wusste nicht, ob sie das ernst meinte oder sarkastisch. „Warum? Weil er ein arrogantes Arschloch ist, das sich nur für sich selbst interessiert. Solange seine Gelüste bedient werden, kümmert ihn gar nichts.“ Sie starrte ihn an. Er hätte wissen müssen, wann er den Mund halten sollte. „Was finden Frauen an solchen Typen?“
„Seine Gelüste bedienen? Nennt man das so in Ohio?“
Tully spürte, wie er rot anlief, und O’Dell lächelte. Sie widmetesich wieder den Berichten und ließ das Thema fallen, als bemerke sie nicht, wie sehr es ihn erhitzte. Daniel Kassenbaum hatte ihn gestern Abend wie einen Dienstboten abgefertigt, für den er keine Zeit hatte. Zudem hatte er sich über die Störung seines Dinners beschwert. Dachte der vielleicht einmal darüber nach, dass schließlich auch er auf sein Dinner verzichten musste, um seine Freundin zu suchen? Vielleicht war Tess ja wirklich mit einem heimlichen Liebhaber getürmt. Er konnte es ihr nicht verdenken.
Tully drehte sich wieder zur Landkarte. Sie hatten einige Regionen eingekreist, meist entlegene Waldgebiete. Um alle durchzukämmen, waren es zu viele. Der einzige Anhaltspunkt war der glitzernde Lehm, den sie in Jessica Beckwiths Auto und im Haus am Archer Drive gefunden hatten. Keith Ganza hatte die chemische Zusammensetzung der metallischen Substanz analysiert, doch auch damit ließ sich das Gebiet nicht eingrenzen. Tully fragte sich inzwischen, ob sie nicht an den falschen Orten suchten. Vielleicht sollten sie sich verlassene Industrieanlagen vornehmen, anstatt
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