Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
schlammigen Boden hervor.
Zuerst hatte sie geglaubt, es sei ein alter Begräbnisplatz, vielleichtein Massengrab aus dem Bürgerkrieg. Dann hatte sie einen schwarzen BH entdeckt und einen Lederpumps. Beides war nicht alt oder verrottet genug, um länger als Wochen oder Monate hier zu liegen.
In eine der Ecken war erst kürzlich Erde geschaufelt worden. Der Hügel wirkte frisch. Sie starrte darauf, ging jedoch nicht näher heran, aus Angst, er könnte zusammenfallen und neue Scheußlichkeiten offenbaren. Als ob es noch schlimmer kommen könnte.
Die Sonnenstrahlen fühlten sich wunderbar an, wenn die Wohltat auch nicht von langer Dauer war. Es gelang Tess, die Frau in die Mitte der Grube zu ziehen, damit sie ein wenig gewärmt wurde. Sogar die Wolldecke trocknete langsam. Sie breitete sie über einige Felsbrocken aus und ließ die Frau nackt, aber in Sonnenschein gebadet, liegen.
Allmählich hatte sie sich an ihren Gestank gewöhnt und konnte in ihrer Nähe bleiben, ohne zu würgen. Die Frau hatte sich in ihrer Ecke mehrfach entleert und versehentlich im eigenen Kot gewälzt. Tess wünschte, sie hätte etwas Wasser, um sie zu säubern. Zugleich wurde ihr bewusst, wie trocken und rau sich ihr Mund und ihre Kehle anfühlten. Die Frau befand sich zweifellos schon im Stadium der Dehydrierung. Ihre Zuckungen hatten sich zu einem leichten Zittern gemildert, und die Zähne klapperten nicht mehr. Sogar ihre Atmung schien wieder normal zu werden. Beschienen von der Sonne, hatte sie die Augen geschlossen, als könnte sie endlich ausruhen. Oder hatte sie beschlossen zu sterben?
Tess saß auf einem abgebrochenen Ast und sah sich prüfend in der Grube um. Sie wusste, dass sie hinausklettern konnte. Sie hatte es zweimal versucht und bis oben geschafft. Beim Blick über den Grubenrand waren ihr vor Erleichterung und Genugtuung die Tränen gekommen. Beide Male hatte sie sich langsam wieder hinabgelassen, um den geschwollenen Knöchel zu schonen.
Sie dachte nur ungern über ihren verrückten Entführer nach, überlegte jedoch, dass sie in dieser Grube vielleicht sicher vor ihm war. Er hatte die Frau hier abgeladen, damit sie verwundet und nackt hier unten starb. Irgendwann würde er zurückkommen, um sie mit Erde zu bedecken und einen weiteren Grabhügel aufzuwerfen. Wenn er ihre Flucht aus dem Schuppen bemerkte, würde er wahrscheinlich nach ihr suchen, aber nicht unbedingt hier unten.
Was nicht bedeutete, dass sie bleiben wollte. Sie hasste das Gefühl, gefangen zu sein. Und diese Grube erinnerte sie zu sehr an den dunklen Sturmkeller, den Onkel und Tante genutzt hatten, um sie zu strafen. Für ein Kind war es schrecklich genug, eine Stunde unter der Erde begraben zu sein, ein oder zwei Tage waren barbarisch. Nicht mal als Erwachsene wusste sie, womit sie diese Strafen verdient hatte. Sie hatte ihrer Tante einfach geglaubt, wenn die sie als böses Kind beschimpft und in die feuchte Folterkammer geschleift hatte. Und jedes Mal hatte sie geschrien, wie Leid es ihr täte, und um Vergebung gefleht.
„Entschuldigungen werden nicht angenommen“, hatte ihr Onkel immer lachend erwidert.
Im Dunkeln hatte sie dann gebetet, ihre Mutter möge kommen und sie retten und sich an deren letzte Worte erinnert: „Ich bin gleich zurück, Tess.“ Aber sie kam nie zu ihrer Rettung. Sie kam überhaupt nicht mehr. Wie hatte ihre Mutter sie bei so bösen Menschen zurücklassen können?
Als sie älter und stärker wurde, war die Tante ihr nicht mehr gewachsen gewesen. Da übernahm der Onkel die Bestrafung. Doch seine Bestrafung fand nachts in ihrem Zimmer statt. Als sie versucht hatte, ihn auszusperren, entfernte er kurzerhand die Tür. Zuerst schrie sie, auf Hilfe hoffend, da sie wusste, dass ihre Tante es nun, ohne die Dämpfung durch die Tür, hören musste. Dochbald schon war ihr klar, dass die Tante es immer gehört und gewusst hatte. Es kümmerte sie nur nicht.
Als Teenager lief sie weg. Sie lernte schnell, Geld mit dem zu verdienen, was ihr Onkel gratis von ihr verlangt hatte. Mit fünfzehn ging sie mit Kongressabgeordneten und Vier-Sterne-Generälen ins Bett. Das war fast zwanzig Jahre her, doch hatte sie erst kürzlich den Absprung aus diesem Leben geschafft und sich ein neues aufgebaut, das nur ihr gehörte. Und sie wollte es verdammt noch mal nicht hier beenden, in diesem entlegenen Grab, wo niemand sie fand!
Sie stand auf, ging zu der Frau, hockte sich neben sie und berührte sie sacht an der Schulter.
„Ich weiß nicht, ob Sie
Weitere Kostenlose Bücher