Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
in dem sein Vater unter merkwürdigen Umständen bei einem Segelunfall ums Leben kam. Stucky war nicht angeklagt worden, allerdings hatte man ihn in einer Routineuntersuchung vernommen, weil er der einzige Nutznießer des väterlichen Erbes war, eines Vermögens, das die investierten Hunderttausende Dollar wie Taschengeld aussehen ließ.
Harding schien schon vor seiner geschäftlichen Verbindung mit Stucky zurückgezogen gelebt zu haben. Maggie fand nichts über seine Kindheit, außer dass er, genau wie Stucky, von seinem dominanten Vater aufgezogen worden war. Ein Jahrbuch führte ihn als 1985er Absolventen des MIT auf, womit er etwa drei Jahre jünger war als Stucky. Im Staat Virginia waren weder eine Heiratsurkunde noch ein Führerschein oder Grundbesitz auf einen Walker Harding eingetragen. Sie hatte soeben begonnen, die Unterlagen von Maryland einzusehen, als Thea Johnson, die weiter unten am Flur arbeitete, an die offene Zimmertür klopfte.
„Agentin O’Dell, da ist ein Anruf für Agent Tully. Ich weiß, er ist für eine Weile fort, aber es klingt wichtig. Wollen Sie den Anruf entgegennehmen?“
„Sicher.“ Maggie langte hinter sich nach dem Hörer. „Welche Leitung?“
„Leitung fünf. Es ist ein Detective aus Newburgh Heights. Ich glaube, er sagte, sein Name sei Manx.“
Auch das noch. Sie atmete tief durch und drückte den Knopf für Leitung fünf.
„Detective Manx, Agent Tully ist zum Essen. Hier spricht seine Partnerin Agentin O’Dell.“
Sie wartete, dass er den Namen erkannte, doch selbst nach einem Seufzer blieb es noch ruhig.
„Agentin O’Dell, sind Sie in letzter Zeit mal wieder in einen Tatort geplatzt?“
„Sehr witzig, Detective Manx, aber wir warten hier beim FBI gewöhnlich nicht auf gravierte Einladungskarten.“ Er sollte ihre Gereiztheit ruhig hören. Wenn er Tully anrief, dann wollte er etwas von ihnen. Außerdem, was konnte er schon tun? Zu Cunningham laufen und sich beschweren, sie sei gemein zu ihm gewesen?
„Wann kommt Tully zurück?“
So wollte er das also anstellen. „Ich weiß nicht genau, ob er das erwähnt hat. Vielleicht kommt er erst am Montag.“
Sie wartete, während er schwieg, und stellte sich seine finstere Miene vor. Wahrscheinlich fuhr er sich frustriert mit einer Hand über den neuen Stoppelschnitt.
„Also Tully sprach gestern Abend über diese McGowan hier aus Newburgh Heights mit mir, die vermutlich vermisst wird.“
„Sie wird vermisst, Detective Manx. Sieht ganz so aus, als wollten Sie es nicht wahrhaben, dass Frauen in Ihrem Bezirk verschwinden. Was ist mit diesem McGowan-Fall?“ Sie genoss das einfach zu sehr, sie musste sich zurücknehmen.
„Ich dachte, er sollte wissen, dass wir heute Morgen ihr Haus überprüft haben und dabei auf einen Typen gestoßen sind, der da rumlungerte.“
„Was?“ Maggie saß kerzengerade und hielt den Hörer fester.
„Dieser Typ behauptet, er sei ein Freund von ihr und habe sich Sorgen gemacht. Er hatte einen Laden von einem rückwärtigenFenster entfernt und schien einbrechen zu wollen. Wir haben ihn zum Verhör mitgenommen. Ich dachte nur, Tully möchte das vielleicht wissen.“
„Sie haben ihn noch nicht freigelassen, oder?“
„Nein, die Jungs plaudern noch mit ihm. Ich glaube, wir haben ihm ganz schön Angst gemacht. Als Erstes bestand er darauf, seinen verdammten Anwalt anzurufen. Da denke ich doch gleich, der hat was auf dem Kerbholz.“
„Lassen Sie ihn nicht gehen, ehe Agent Tully und ich mit ihm reden konnten. Wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen.“
„Sicher, kein Problem. Freue mich darauf, Sie wieder zu sehen, O’Dell.“
Sie legte auf, schnappte sich ihre Jacke und war schon fast aus der Tür, als ihr einfiel, dass sie Tully anrufen sollte. Sie tastete ihre Jacke ab, bis sie das Handy in der Tasche entdeckte. Sie würde von unterwegs anrufen. Nein, das war kein neuerlicher Fall von Alleingang. Sie brach keine von Cunninghams neuen Regeln. Sie wollte Tully lediglich nicht beim Essen mit seiner Tochter stören.
Das redete sie sich jedenfalls ein. Tatsache war, sie wollte das allein nachprüfen. Falls Manx Albert Stucky oder Walker Harding hatte, wollte sie allein mit ihm sein.
50. KAPITEL
Je höher die Sonne gestiegen war, desto mehr Licht fiel in die Grube. Tess sah ihr Höllenloch, wie es war. Der Schädel, der sie anstarrte, war nicht der einzige menschliche Überrest ringsum. Weitere vom Regen glänzend weiß gewaschene Knochen stachen aus den unebenen Wänden und dem
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