Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
besteht darin, Kampfgeist durch Angst zu ersetzen, rohe, animalische Angst, die einen spüren lässt, lebendig zu sein. Sind Sie bereit, sich lebendig zu fühlen, Margaret O’Dell?
Das war ihr erster Einblick in den Intellekt Albert Stuckys gewesen, der einen prominenten Arzt zum Vater gehabt hatte. Er hatte die besten Schulen besucht und alle Privilegien genossen, die für Geld zu haben waren. Allerdings wurde er aus Yale hinausgeworfen, weil er fast ein Wohnheim für Studentinnen abgebrannt hatte. Weitere Straftaten folgten: versuchte Vergewaltigung, Körperverletzung, kleinere Diebstähle. Alle Anklagen wurden jedoch entweder zurückgezogen oder aus Mangel an Beweisen fallen gelassen. Nach dem Unfalltod seines Vaters war Stucky verhört worden, da es sich um einen eigenartigen Segelunfall gehandelt hatte, obwohl sein Vater ein Segelexperte gewesen war.
Dann, vor sechs oder sieben Jahren, begann Stucky mit einem Geschäftspartner als einer der Ersten mit dem Aktienhandel im Internet. Stucky mauserte sich zum respektierten Geschäftsmann und Multimillionär.
Trotz intensiver Nachforschungen hatte Maggie nie herausgefunden, was Stucky zum Serienkiller gemacht hatte. Gewöhnlich ging der ersten Tat ein mit Stress behaftetes Erlebnis voraus, Tod, Zurückweisung, Missbrauch. Was die Initialzündung beiStucky gewesen war, wusste sie nicht. Vielleicht ließ sich das Böse einfach nicht zügeln, und das Böse in Stucky war besonders mächtig.
Die meisten Serienkiller töteten zum Vergnügen oder weil es ihnen eine Art Genugtuung verschaffte. Sie trafen die bewusste Entscheidung, es zu tun. Die Tat entsprang weniger einer Abartigkeit. Für Albert Stucky war das Töten nicht genug. Er zog sein Vergnügen daraus, seine Opfer psychisch zu brechen, degradierte sie zu schniefenden, flehenden Wracks und beherrschte sie körperlich, geistig, seelisch. Er genoss es, ihren Mut zu brechen. Dann belohnte er seine Opfer mit einem langsamen, qualvollen Tod. Ironischerweise waren die, die er sofort tötete und deren Körper er in Abfallbehältern entsorgte, nachdem er Organe als Geschenk entnommen hatte, die Glücklicheren.
Sie erschrak, als das Telefon läutete, und griff nach ihrer Smith & Wesson. Ein reiner Reflex. Es war spät, und nur wenige Leute kannten ihre neue Nummer. Sie hatte sich geweigert, sie dem Pizzadienst zu nennen. Und sogar Greg kannte nur ihre Handynummer. Vielleicht hatte Gwen etwas vergessen. Sie langte auf den Schreibtisch und holte den Apparat herunter.
„Ja?“ meldete sie sich gespannt und fragte sich, wann sie aufgehört hatte, Hallo zu sagen.
„Agentin O’Dell?“
Sie erkannte den ruhigen Tonfall des stellvertretenden Direktors Cunningham. Doch ihre Anspannung ließ nicht nach.
„Ja, Sir.“
„Ich konnte mich nicht erinnern, ob Sie bereits unter der neuen Nummer zu erreichen sind.“
„Ich bin heute eingezogen.“
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Nach Mitternacht. Seit er sie vom Außendienst abgezogen und in die Unterrichtseinheit gesteckthatte, sprachen sie oft miteinander. Hatte er vielleicht Informationen über Stucky? Hoffnungsvoll richtete sie sich auf.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Tut mir Leid, Agentin O’Dell. Ich merke gerade, wie spät es ist.“
Offenbar saß er immer noch an seinem Schreibtisch in Quantico. Was machte es schon, dass Freitagabend war?
„Ist schon in Ordnung, Sir. Sie haben mich nicht geweckt.“
„Ich nahm an, Sie würden morgen nach Kansas City abreisen, und ich wollte Sie nicht verpassen.“
„Ich reise am Sonntag.“ Sie ließ sich ihre Neugier und Erwartung nicht anmerken. Falls er sie hier brauchte, würde Stewart sie bei der Konferenz vertreten können. „Muss ich meinen Terminplan ändern?“
„Nein, keineswegs. Ich wollte mich nur vergewissern. Allerdings bekam ich heute am frühen Abend einen Anruf, der mir Sorge bereitet.“
Sie vermutete, dass ein ahnungsloser Passant in einem Abfallbehälter eine aufgeschlitzte Leiche gefunden hatte, und wartete auf die Einzelheiten.
„Ein Detective Manx von der Polizei in Newburgh Heights rief mich an.“
Maggies hoffnungsvolle Erwartung verflüchtigte sich.
„Er erzählte mir, dass Sie sich in eine Tatortermittlung eingemischt haben. Stimmt das?“
Maggie wollte sich die Augen reiben und merkte erst jetzt, dass sie immer noch den Revolver in der Hand hielt. Sie legte ihn beiseite und lehnte sich, völlig erledigt, mit dem Rücken an den Schreibtisch. Zur Hölle mit diesem Mistkerl
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