Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
hatte bereits alle Fensterriegel zweimal geprüft und ließ nur wenige Oberlichter geöffnet, um die wunderbar kühle Nachtluft hereinzulassen. Auch die Alarmanlage hatte sie nach Gwens Abfahrt mehrfach kontrolliert. Jetzt ging sie auf und ab, fürchtete sich vor der Nacht, hasste die Dunkelheit und schwor sich, morgen Vorhänge und Jalousien anzubringen.
Schließlich setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden, zwischen die Stapel mit den Unterlagen aus Stuckys Karton. Sie holte den Ordner mit Zeitungsausschnitten und Artikeln heraus, die sie sich heruntergeladen hatte. Vor fünf Monaten, gleich nach Stuckys Flucht, hatte sie damit begonnen, landesweit im Internet die Schlagzeilen der Zeitungen zu verfolgen.
Sie konnte immer noch nicht glauben, wie leicht Stucky denen entwischt war. Und ausgerechnet auf dem Weg in einen Hochsicherheitstrakt, eine einfache Fahrt, die nur einige Stunden hätte dauern sollen. Er tötete zwei Begleitbeamte, verschwand in den Everglades von Florida und wurde nie mehr gesehen.
Jeder andere hätte das wohl nicht überlebt und wäre zu einem kleinen Alligatorimbiss geworden. Aber wie sie Stucky kannte, tauchte der irgendwann im Westenanzug mit einer Aktentasche aus Krokoleder aus den Everglades auf. Ja, Albert Stucky war intelligent und gerissen genug, einem Alligator die Haut abzuschwatzen und ihn zur Belohnung aufzuschlitzen und an seine Artgenossen zu verfüttern.
Sie ging die letzten Artikel durch. Vergangene Woche hatte im Philadelphia Journal etwas über einen Frauentorso aus einem Fluss gestanden. Kopf und Füße entdeckte man in einem Abfallbehälter. Der Fall ähnelte Stuckys Vorgehensweise noch am meisten. Trotzdem hatte sie nicht das Gefühl, dass er dahinter steckte. Es war zu viel, das war Overkill. Stuckys Arbeitsweise, so unvorstellbar grausam sie auch war, beinhaltete nicht, dem Opfer durch Verstümmelung die Identität zu rauben. Nein, das vollführte er mit hinterhältigen psychologischen und mentalen Tricks. Auch das Entfernen von Organen war nicht etwa eine Aussage über das Opfer, sondern eine Fortsetzung seines Spiels.
Sie stellte sich vor, wie er lachend zuschaute, wenn ein harmloser Gast seine widerwärtige Hinterlassenschaft fand. Oft stellte erdie entfernten Organe in einem unauffälligen Mitnahmebehälter auf einem leeren Cafétisch ab. Für ihn war das ein Spiel, ein morbides, abartiges Spiel.
Mehr Sorge als die verstümmelte Leiche bereiteten ihr Artikel über vermisste Frauen. Frauen wie ihre verschwundene Nachbarin Rachel Endicott. Intelligente, erfolgreiche Frauen, einige mit Familie, alle attraktiv, und ausnahmslos Menschen, die normalerweise nicht einfach verschwanden. Maggie fragte sich unwillkürlich, ob Stucky einige in seine Sammlung aufgenommen hatte. Zweifellos begann er von einem Versteck aus wieder aktiv zu werden. Er hatte genügend Geld und Möglichkeiten. Alles, was er brauchte, war Zeit.
Ihr war klar, dass Cunningham und seine aufgelöste Sondereinheit und jetzt auch sein neuer Profiler auf eine neue Leiche warteten. Falls aber irgendwann Leichen auftauchten, dann die der Frauen, die er rasch und nur zum Vergnügen umbrachte. Nein, wonach sie suchen sollten, waren die Frauen, die er sammelte. Die quälte er. Die endeten schließlich in entlegenen Gräbern tief in den Wäldern, nachdem er seine abartigen Spiele mit ihnen getrieben hatte. Spiele, die sich Tage und Wochen hinzogen. Er suchte sich nie junge, naive Frauen aus. Nein, Stucky liebte die Herausforderung. Er wählte sorgfältig intelligente, reife Frauen aus. Frauen, die kämpften, die nicht leicht brachen. Frauen, die er sowohl physisch wie psychisch quälen konnte.
Maggie rieb sich die Augen. Sie wollte noch einen Scotch. Die zwei, die sie vorhin getrunken hatte, dazu das Bier, machten sie leicht benommen und ließen ihren Blick verschwimmen. Obwohl Gwen Kaffee gekocht hatte, hatte sie ihn selbst nicht angerührt, weil sie ihn nicht mochte. Sie brauchte etwas, das sie auf Trab hielt, etwas wie Scotch, von dem sie genau wusste, dass er zum gefährlichen Hilfsmittel wurde.
Sie hob einen anderen Ordner hoch, und eine Notiz fiel heraus. Die Handschrift auf der Karte ließ sie frösteln. Sie hielt die Karte vorsichtig an einer Ecke hoch, als wäre sie vergiftet. Das hier war die erste von vielen Botschaften gewesen, die Stucky ihr geschrieben hatte. In sorgfältiger Handschrift stand da:
Es ist keine Herausforderung, ein Pferd ohne Kampfgeist zu brechen. Die Herausforderung
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