Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
nicht anmerken zu lassen.
Er nahm die Hose vom Boden, zögerte jedoch und zog sie nicht gleich an, da ihm offenbar etwas klar wurde.
„Mein Gott, du erinnerst dich nicht an mich, richtig?“
Das jungenhafte Gesicht unter dem Bartschatten wirkte verlegen. Er stieg ungelenk in seine Hose, stolperte und ließ fast das Handtuch fallen, ehe die Hose oben war. Tess sah zu, entsetzt über sich selbst, da der Anblick seines Körpers sie trotz allem erregte. Sie müsste besorgt sein, dass er ihr etwas antat, stattdessen wunderte sie sich, wie jung er war. Zum Kuckuck, warum fiel ihr sein Name nicht ein?
„Ich hätte wissen müssen, dass du zu viel getrunken hattest“, entschuldigte er sich, suchte eilig sein Hemd zwischen ihren Sachen, die er jedoch ordentlich gefaltet wieder zurücklegte. Bei ihrem BH hielt er verlegen inne. Seine Zerstreutheit und bemühte Höflichkeit ließen sie schmunzeln. Was ihn verblüffte, als er zu ihr hinsah. Ungeachtet ihrer Sachen setzte er sich in den Sessel, rang die Hände und damit unbewusst ihren BH.
„Ich bin ein kompletter Idiot.“
„Nein, ganz und gar nicht.“ Sie lächelte wieder, und sein offensichtliches Unbehagen nahm ihr die Anspannung. Lächelnd zog sie die Knie unter der Bettdecke an, schlang die Arme darum und legte das Kinn darauf. „Es ist nur so, dass ich so etwas eigentlich nicht mache“, versuchte sie zu erklären. „Besser gesagt, nicht mehr mache.“
„Ich mache so was überhaupt nie.“ Er bemerkte ihren BH in der Hand und legte ihn gefaltet ins Bücherregal. „Du erinnerst dich also wirklich nicht an gestern Nacht?“
„Ich erinnere mich, dass du mich beobachtet hast, und dass ich mich sehr zu dir hingezogen gefühlt habe.“ Das Geständnis überraschte sie nicht weniger als ihn.
„Das ist alles?“ Er wirkte gekränkt.
„Tut mir Leid.“ Sie zuckte lächelnd die Achseln und konnte nicht glauben, wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte, keine Angst, keine Panik. Die einzige Anspannung ging von einer offenkundigen sexuellen Anziehung aus, die sie zu ignorieren versuchte. Er sah nicht aus, als sei er schon dreißig. Und er war ein Fremder, um Himmels willen! Wie konnte sie nur so sorglos sein? Hatte sie denn gar nichts gelernt nach all den Jahren?
„Könnte ich dich vielleicht zum Lunch ausführen, sollte ich jemals mein Hemd finden?“
Sie musste an Daniel denken. Wie sollte sie ihm ihre Entgleisung erklären? Wie eine schmerzliche Erinnerung drückte sich der Saphirring, den er ihr geschenkt hatte, in ihr Kinn. Was war los mit ihr? Daniel war ein reifer, respektierter Geschäftsmann. Natürlich war er arrogant und egoistisch, aber wenigstens war er kein Kind mehr, das sie irgendwo in einer Bar aufgelesen hatte.
Sie sah den gut aussehenden Fremden Schuhe und Strümpfe anziehen, während er auf ihre Antwort wartete. Er schaute sich suchend nach seinem Hemd um. Ihre Zehen berührten einen Knubbel am Fußende des Bettes. Sie griff unter der Decke danach und zog ein blassblaues zerknittertes Oxfordhemd hervor. Als sie es hochhielt, erinnerte sie sich daran, es angezogen zu haben. Leicht errötend fiel ihr wieder ein, wie er es ihr ausgezogen hatte.
„Ist es noch zu retten?“ fragte er und streckte sich, um es ihr abzunehmen, blieb aber in sicherer Distanz. Ganz Gentleman, tat er so, als seien sie sich fremd. Dabei hatte er sie noch vor Stunden nackt in den Armen gehabt. Die Erinnerung hätte ihr unangenehm sein müssen, das Gegenteil traf zu. Sie beobachtete seine fließenden, wenn auch nervösen Bewegungen und ärgerte sich über sich selbst. Warum fiel ihr bloß auf, dass das Blau des Hemdes die bläulichen Sprenkel in seinen grünen Augen betonte? Wieso war sieüberhaupt so sicher gewesen, dass er ihr nichts tat? Irgendwann irrte sie sich gewaltig, wenn sie Menschen nach den Augen beurteilte.
„Was ist jetzt mit Lunch?“ Er sah aus, als wappne er sich vor weiterer Zurückweisung. Er hatte Schwierigkeiten, sein Hemd zuzuknöpfen. Als er fast fertig war, merkte er, dass er schief geknöpft hatte, und fing von vorne an.
„Ich erinnere mich nicht mal an deinen Namen“, gestand Tess.
„Will. William Finley.“ Er streifte sie zögerlich lächelnd mit einem Blick. „Ich bin sechsundzwanzig, war nie verheiratet, und ich bin Anwalt. Ich bin gerade nach Boston gezogen, aber ich besuche hier einen Freund in Newburgh Heights. Er heißt Bennett Cartland. Sein Vater hat eine Anwaltskanzlei, eine ziemlich bekannte sogar. Du kannst es
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