Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
mit einer silbernen Isolierhaube. Zwei leere Gläser und Besteck glänzten auf einer frischen weißen Leinenserviette.
„Hast du was beim Zimmerservice bestellt?“ Sie drehte sich fragend um, doch Nick war schon an ihrer Seite.
„Nein. Und ich habe es auch nicht klopfen gehört.“
Er stieg über das Tablett hinweg und blickte zu beiden Seiten den Flur entlang. Maggie lauschte. Keine schließende Tür, keine Schritte, kein fahrender Lift.
„Wahrscheinlich nur ein Irrtum“, sagte Nick, doch sie spürte seine Nervosität.
Maggie kniete sich neben das Tablett. Angespannt zog sie vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger die Leinenserviette unter dem Silber hervor. Mit der entfalteten Serviette fasste sie den Griff der Isolierhaube und hob sie sacht an. Sofort erfüllte Gestank den Flur.
„Großer Gott!“ Nick wich einen Schritt zurück.
Auf dem glänzenden Essteller lag ein blutiger Klumpen, und Maggie wusste, es war Ritas fehlende Niere.
27. KAPITEL
Innerhalb von Minuten wimmelte die Hotellobby von Gesetzeshütern. Alle Ein- und Ausgänge wurden besetzt, Lifte überprüft und beobachtet, und die Treppenhäuser wurden in fünfundzwanzig Stockwerken durchsucht. Die Küche des Zimmerservice wurde besetzt und das Personal befragt. Trotz des massiven Einsatzes von Beamten war Maggie klar, dass sie ihn nicht finden würden.
In den Augen der meisten Kriminellen wäre es glatter Selbstmord, sich in einem Hotel aufzuhalten, in dem Hunderte Polizisten, Sheriffs, Kriminalbeamte und FBI-Agenten wohnten. Für Albert Stucky war es nur eine weitere anregende Herausforderung. Maggie stellte ihn sich vor, wie er irgendwo saß und sich über den Aufruhr und die vergebliche Suche nach ihm amüsierte. Deshalb hielt sie an den offenen Plätzen nach ihm Ausschau.
In der ersten Etage gab es ein Atrium mit Blick auf die Lobby.Sie stellte sich an das Messinggeländer und schaute suchend hinunter - über die Schlange am Reservierungstresen, zum Mann am Flügel, zu den wenigen Gästen an den Bistrotischen im verglasten Café, zum Mann vom Empfang und dem Taxifahrer, der das Gepäck holte. Stucky würde sich unauffällig unter die Leute mischen, als gehöre er hierher. Sogar dem Zimmerservice wäre er nicht aufgefallen, wäre er mit weißer Jacke und schwarzer Krawatte durch ihre Küche gegangen.
„Erfolg gehabt?“
Maggie zuckte erschrocken zusammen, widerstand aber dem Reflex, nach der Waffe zu greifen.
„Entschuldige.“ Nick schien ehrlich zerknirscht. „Er wäre verrückt, hier zu bleiben. Ich denke, er ist längst weg.“
„Stucky beobachtet mit Vorliebe, was er angerichtet hat. Die Sache macht ihm nur halb so viel Spaß, wenn er sich nicht an der Reaktion der Leute weiden kann. Die Hälfte der Beamten hier weiß nicht mal, wie er aussieht. Wenn er nur die Ruhe bewahrt, entdeckt man ihn nie. Er hat die unheimliche Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen.“
Maggie blieb am Geländer stehen und schaute weiter suchend hinab. Sie spürte, dass Nick sie beobachtete. Sie hatte es satt, dass alle nur nach Anzeichen eines Nervenzusammenbruchs bei ihr suchten. Allerdings war Nicks Sorge echt.
„Mir geht es gut“, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage.
„Das weiß ich. Trotzdem bin ich besorgt.“ Über das Geländer gebeugt, schaute er ebenfalls suchend hinab. Seine Schulter berührte ihre.
„Cunningham glaubt, er beschützt mich, indem er mich von den Ermittlungen ausschließt.“
„Ich habe mich schon gefragt, warum du unterrichtest. Johnsagte, es gäbe Gerüchte, du wärst ausgebrannt und am Ende deiner Nerven.“
Etwas in der Art hatte sie vermutet. Es bestätigt zu bekommen war jedoch wie ein Schlag ins Gesicht. Sie strich sich das feuchte Haar hinter die Ohren. Mit dem strähnig feuchten Haar und der weiten Kleidung entsprach sie wirklich dem Bild einer durchgeknallten Agentin.
„Glaubst du das auch?“ fragte sie, nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
Sie standen fast im Schulterkontakt nebeneinander an der Brüstung und blickten geradeaus. Das Schweigen dauerte zu lange.
„Ich habe John gesagt, dass die Maggie O’Dell, die ich kenne, hart wie Stahl ist. Ich habe gesehen, wie du ein Messer in den Bauch bekamst und nicht aufgegeben hast.“
Eine weitere Narbe. Der verrückte Kindermörder, den sie mit Nick in Nebraska gejagt hatte, hatte sie niedergestochen und zum Sterben in einem Erdtunnel auf einem Friedhof zurückgelassen. „Niedergestochen zu werden scheint mir leichter
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