Maggie O´Dell 02 - Das Grauen
gepflegtenViertel hätte einen solchen Pfiff besonders obszön wirken lassen.
Das Ganze war lächerlich. Ihre Seidenbluse klebte an ihr, und ihr Haar war verschwitzt. Sie war keine umwerfende Schönheit. Bestenfalls hatte sie eine passable Figur, für die sie sich regelmäßig im Sportstudio quälte und ihre Gier nach Cheeseburgern bremste. Sie war alles andere als eine „Playboy-Schöne“. Warum also kam sie sich plötzlich vor wie nackt, obwohl sie einen konservativen Hosenanzug trug?
Das war nicht die Schuld der Männer. Nicht mal deren Blicke störten sie so sehr, als vielmehr der eigene Reflex, sich ihnen zu präsentieren. Diese ärgerliche Angewohnheit hatte sie aus ihrer schillernden Vergangenheit übernommen. Sie schien an ihr zu haftete wie Zigarettenrauch und Whiskeygestank. Die Erinnerung an Hits von Elvis aus der Musicbox in der Ecke, gefolgt von billigen Hotelzimmern, war noch sehr lebendig. Aber das war lange her, zu lange, um ihr jetzt noch zu schaden. Schließlich war sie dabei, eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu werden.
Warum hatte die Vergangenheit noch einen solchen Einfluss auf ihr Leben? Wieso konnten ein paar indiskrete Blicke von Männern, die sie nicht mal kannte, sie aus der Fassung bringen, dass sie um ihr hart erarbeitetes Ansehen fürchtete? Ganz einfach, weil die Blicke ihr das Gefühl vermittelten, eine Betrügerin zu sein, die sich als jemand ausgab, der sie nicht war. Als sie die Eingangstür erreichte, hätte sie sich am liebsten umgedreht und wäre weggerannt. Stattdessen atmete sie tief durch und klopfte an die schwere, angelehnte Eichentür.
„Kommen Sie herein“, forderte eine Frau sie auf. Tess fand Maggie O’Dell an der blinkenden Schalttafel der neu installierten Alarmanlage.
„Oh hallo, Miss McGowan. Müssen wir noch einige Papiereunterschreiben?“ Maggie warf Tess beim Kodieren der Schalttafel nur einen kurzen Blick zu.
„Bitte nennen Sie mich einfach Tess.“ Sie wartete zögernd ab, ob Maggie ihr dasselbe Angebot der vertraulichen Anrede machte, war jedoch nicht erstaunt, als es ausblieb. Maggie O’Dell war keineswegs unhöflich, vielmehr schätzte sie eine gewisse Distanz. Tess verstand und respektierte das. „Nein, es gibt nichts zu unterschreiben. Ich wusste nur vom großen Umzug heute und wollte mich vergewissern, dass alles in Ordnung ist.“
„Sehen Sie sich um, ich bin gleich fertig mit Programmieren.“
Tess schlenderte vom Flur ins Wohnzimmer. Die Nachmittagssonne schien herein, und alle Fenster waren geöffnet, damit die aufgeheizte Luft durch eine kühle Brise ersetzt wurde. Tess wischte sich die unangenehm feuchte Stirn und beobachtete aus den Augenwinkeln ihre Kundin.
Maggie O’Dell war tatsächlich eine Frau, die bewundernde männliche Blicke verdiente. Tess wusste, dass sie etwa in ihrem Alter war, irgendwo Anfang dreißig. Aber ohne den sonst üblichen eleganten Anzug wäre sie auch als Studentin durchgegangen. In einem abgewetzten T-Shirt der University of Virginia und einer fadenscheinigen Jeans kam ihre athletische Figur gut zur Geltung. Sie besaß eine natürliche Schönheit, die man nicht künstlich erzeugen konnte. Die Haut war glatt und zart, und ihr kurzes schwarzes Haar glänzte, obwohl es völlig zerzaust war. Sie hatte ausdrucksvolle braune Augen und hohe Wangenknochen, um die Tess sie beneidete.
Tess wusste instinktiv, dass die Männer draußen es nicht wagen würden, Maggie mit derselben Ungeniertheit zu mustern, wie sie das bei ihr getan hatten, obwohl sie es vermutlich gerne wollten.
Diese Frau hatte etwas. Tess hatte es schon bei der ersten Begegnung bemerkt, ohne es genau beschreiben zu können. Vielleichtlag es an der aufrechten Körperhaltung oder dem gelegentlichen Ignorieren ihrer Umgebung. Ihr schien die Wirkung, die sie auf Menschen hatte, völlig gleichgültig zu sein. Eine Haltung, die Respekt erzeugte, nein verlangte. Trotz Designerkleidung und teurem Auto würde Tess diese überlegene Haltung nie besitzen. Bei aller Verschiedenheit hatte sie sich Maggie O’Dell sofort verbunden gefühlt, denn sie schienen beide sehr allein zu sein.
„Entschuldigung“, sagte Maggie, als sie sich zu Tess ans Gartenfenster gesellte. „Ich bleibe heute Nacht hier und wollte sicher sein, dass die Alarmanlage funktioniert.“
„Natürlich.“ Tess nickte lächelnd.
Maggie war bei allen angebotenen Häusern mehr an den Alarmanlagen als an der Wohnfläche oder dem Kaufpreis interessiert gewesen. Anfänglich hatte sie das dem
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