Magie der Schatten: Roman (German Edition)
den Schultern und schleiften ihn dort hinauf, wo Raigar stand, zusammen mit einigen gebeugten Gestalten und auch Vicold. Der hatte einen dünnen, muskulösen Körper, der sich unter schmutzstarrendem Leder verbarg. Sein Gesicht verriet, dass er einige Jahre jünger als Raigar sein musste, und über das Kinn zog sich eine sichelförmige Narbe. Derber Schweißdunst hüllte sie alle ein. Vor ihnen befand sich der Richtblock, ein breites, verwittertes und von schwarzen Flecken und Linien durchzogenes Holzstück. Daneben standen mit Tüchern ausgelegte Körbe.
Und unter ihnen, im ersten Licht einer roten Sonne, drängten sich die Massen auf den Straßen. Braunfaulige Äpfel und Tomaten flogen zum Blutgerüst hoch und zerplatzten an den hölzernen Verstrebungen. Die geschrienen Beleidigungen gingen ineinander über. Die Stadtgarde markierte mit ihren rot beschienenen Rüstungen eine Grenzlinie für die Zuschauer vor dem Gerüst. Der Platz war komplett gefüllt mit Menschenleibern, abgesehen von vier Spalieren, die den Himmelsrichtungen entsprachen und durch die die anderen Todgeweihten herangeführt wurden. Direkt hinter ihnen schlossen sich die Gassen wieder.
Zwei Ebenen unter Raigar stand ein in Mantel und Weste gehüllter Advokat, der von einem Pergament die Anklage und das Urteil verlas. Vielleicht verlas er auch nur die Neuigkeiten des Tages. Seine Worte gingen im Trubel der Menge unter.
Aus der Schlange, die sich auf der Richtplattform gebildet hatte, trat ein dunkler Riese heraus. Er überragte selbst Raigar um einige Fingerbreit. Eine schwarze Henkerskapuze bedeckte sein Gesicht, und die Augen hinter den Sehschlitzen lagen im Schatten. Der Saum der dunklen Robe schleifte dem Mann hinterher, als sei er ein schwarzes Gespenst. Seine Hände hielten eine abgegriffene Axt, deren Schneide die Länge eines Unterarms hatte. »Wer ist der Erste?«, fragte er über das Gebrüll der Menge hinweg und stützte sich auf den Griff seiner Axt.
Vicold trat vor. »Ich.« Er musste den Kopf in den Nacken legen, um dem Henker in die schattigen Augen zu blicken.
»So, so. Er will zuerst.« Das war eine bekannte Stimme. Der bärtige Hauptmann der Stadtgarde trat auf die Hinrichtungsplattform. »Leider werden hier keine letzten Wünsche erfüllt. Wir nehmen den da als Ersten.« Er klopfte Raigar auf die Schulter, und wortlos trat dieser vor. Im Vorbeigehen wechselte er ein kaum merkliches Nicken mit Vicold. Alle Männer außer ihm selbst trugen nur Strickfesseln. Und wenn man genau hinsah, war bei den meisten Stricken bereits eine Kerbe sichtbar, hineingesägt mit einem Messer. Hoffentlich sahen die Wachen nicht zu genau hin.
Vier von ihnen traten an Raigar heran und packten ihn. Sie drückten ihn nach vorn, mit dem Kopf auf den Richtblock. Unaussprechlicher Gestank stieg ihm von dem besudelten Holz in die Nase.
Das vermummte Gesicht des Henkers beugte sich zu ihm herab. »Letzte Worte?«
Raigar schwieg, während er sein Bein zur Seite zog, bis die Ketten sich spannten. Die Fessel öffnete sich klickend. Er fegte dem nächststehenden Soldaten mit einem Tritt die Beine weg, und die Hände an seinen Schultern lösten sich. Der stürzende Soldat riss den Kameraden neben sich mit. Der taumelte gefährlich nahe am Rand der Plattform und kippte nach hinten weg. Raigar verschränkte die Hände ineinander und schmetterte sie dem nächsten seiner Schinder in den Magen. Erbrochenes spritzte über ihn hinweg, und der Mann ging in die Knie. Der letzte Soldat hielt ihn nur noch mit einer Hand und griff nach seinem Schwert. Raigar packte ihn am Arm und riss ihn zu sich, so dass der Wächter mit der Schläfe auf den Richtblock prallte. Er rutschte bewusstlos daran herab. Raigar richtete sich auf.
Hinter ihm zerrissen die ersten Männer ihre Fesseln. Irgendwo unter den noch Gefesselten wanderte Vicolds Messer weiter. Der Hauptmann reagierte sofort. Sein Schwert fuhr einem Mann, der bereits triumphierend die befreiten Arme hochreckte, durch die Körpermitte. »Männer! Zu mir!«, rief er, noch während der Tote vor ihm niederstürzte.
Von der Seite fuhr die Henkersaxt auf Raigar nieder. Im letzten Moment hob er die Arme und spannte die Muskeln an. Die Axtschneide prallte auf die Kette zwischen seinen Handgelenken und blieb in der Luft hängen. Raigar stand jetzt dem Dunkelgewandeten gegenüber. Brüllend vor Anstrengung drückte er die Axt mit der Kette zurück, hinter den Kopf des Henkers. Ihre Gesichter waren nur noch eine Handbreit
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