Magier von Moskau
Sie dieses Schreiben als offizielles Dokument oder, wenn es Ihnen beliebt, als Zeugenprotokoll. Sollte der Brief nicht genügen, bin ich bereit, meine Aussagen in jeder Rechtsschutzbehörde, auch unter Eid, zu bestätigen.
Vergangene Nacht konnte ich nicht einschlafen – nach unserer Auseinandersetzung waren meine Nerven bis zum Äußersten gespannt, und Sie hatten mir einen gehörigen Schreck eingejagt, was soll ich es verhehlen. Ich bin ein empfindsamer Mensch und hypochondrisch veranlagt, und Ihre Drohung, mich auf administrativem Wege nach Jakutsk zu schicken und obendrein die dortigen Politischen davon in Kenntnis zu setzen, daß ich mit der Polizei kooperiert habe, hatte mich völlig aus der Bahn geworfen.
Also, ich tigerte durchs Zimmer, raufte mir die Haare, rang die Hände – kurzum, ich hatte die Hosen voll. Vor lauter Selbstmitleid habe ich sogar geheult. Hätte ich nicht solchen Abscheu gegen Selbstmord, seit im vorigen Jahr mein armer, von mir vergötterter Bruder (wie sehr glich er den blutjungen Zwillingen aus unserem Klub!) ums Leben kam, so hätte ich wohl ernstlich erwogen, mich zu töten.
Im übrigen dürften meine nächtlichen Gefühle Sie kaum interessieren. Es genügt zu sagen, daß ich in der zweiten Nachtstunde noch nicht schlief.
Plötzlich ertönte ein entsetzliches Gedröhn und Geknatter, das immer näher kam. Erschrocken blickte ich aus dem Fenster und sah, daß ein monströses dreirädriges Gefährt, das sich ohne Pferdekraft vorwärtsbewegte, vor dem Haus hielt. Auf dem hohen Sitz waren zwei Figuren zu sehen: eine |269| in einem blanken Lederanzug, mit Schirmmütze und riesiger Brille, die fast das ganze Gesicht bedeckte; die zweite noch seltsamer – ein halbwüchsiges Jüdlein mit Scheitelkäppchen und Peies, aber auch mit großer Brille.
Der Ledermann kletterte von seinem häßlichen Apparat, stieg die Vortreppe hinauf und klingelte.
Es war der Stotterer, sehr konzentriert, blaß und finster.
»Ist was passiert?« fragte ich. Der nächtliche Besuch erstaunte und beunruhigte mich. Dieser Herr hatte nie zuvor Interesse an meiner Person genommen. Ja, er schien bislang die Tatsache meiner Existenz übersehen zu haben. Und woher wußte er, wo ich wohne?
Ich konnte nur eines vermuten: Der Stotterer hatte herausbekommen, daß ich versucht hatte, ihn zu beschatten, und forderte nun eine Erklärung von mir.
Doch er sprach von etwas ganz anderem.
»Marja Mironowa, die Sie unter dem Namen Colombina kennen, ist aus dem Fenster gesprungen«, sagte er statt einer Begrüßung oder einer Entschuldigung für sein spätes Erscheinen. Ich weiß nicht, warum ich ihn noch immer mit dem Namen benenne, den ich mir selbst ausgedacht habe. Dieser lächerliche Winkelzug ist jetzt überflüssig, außerdem wissen Sie über diesen Mann ohnehin mehr als ich. Wie er in Wirklichkeit heißt, ist mir unbekannt, aber im Klub trug er den seltsamen Namen Gendsi.
Ich wußte nicht, was ich auf diese betrübliche Nachricht antworten sollte, und murmelte nur: »Schade um das Mädchen. Hoffentlich mußte sie nicht leiden vor dem Tod.«
»Zum Glück lebt sie«, erklärte Gendsi leidenschaftslos. »Colombina hat unglaubliches Glück gehabt. Sie hat sich nicht einfach aus dem Fenster gestürzt, sondern seltsamerweise Anlauf genommen und ist sehr weit gesprungen. Das |270| hat sie gerettet. Obwohl die Gasse schmal ist, hätte Colombina natürlich nie das Dach des gegenüberliegenden Hauses erreicht, doch zum Glück ragt vis-à-vis von ihrem Balkon ein Reklameschild in Form eines Blechengels aus der Wand. Colombina blieb mit dem Rock am ausgestreckten Arm dieser Figur hängen. Ihr Kleid erwies sich als außerordentlich reißfest, aus dem gleichen Stoff ist übrigens mein Reiseanzug gearbeitet. Die Ärmste blieb also in einer Höhe von zwanzig Metern hängen und verlor das Bewußtsein. Sie hing kopfunter, wie eine Puppe. Und zwar ziemlich lange, denn infolge der Dunkelheit wurde sie nicht gleich entdeckt. Feuerwehrleute holten sie unter großen Schwierigkeiten herunter und brachten sie ins Krankenhaus. Als sie zu sich kam, wurde sie nach der Adresse von Angehörigen befragt. Sie nannte meine Telephonnummer. Man rief mich an und fragte: ›Sind Sie Herr Gendsi?‹«
Ich bemerkte, daß er keineswegs leidenschaftslos sprach, sondern mit aller Kraft bemüht war, seine starke Erregung niederzukämpfen. Je länger ich ihm zuhörte, desto mehr beschäftigte mich die Frage: Warum ist er zu mir gekommen? Was will er? Gendsi
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