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Magier von Moskau

Magier von Moskau

Titel: Magier von Moskau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Wissenschaft ist dergestalt, daß jeder sie sich selbständig aneignen und die Prüfungen extern ablegen muß.‹
    Ich öffnete das Tintenfaß, nahm das Blatt Papier und …
    Und vergaß augenblicklich das Traktat, den Dogen und den Brief. Durch die Marmorierung des alten Papiers schimmerten verschwommen, doch durchaus lesbar die bekannten eckigen Buchstaben hindurch, die zu zwei kurzen Wörtern gefügt waren: Ich warte.
    |265| Ich begriff nicht gleich, was die Schrift bedeutete, wunderte mich nur, woher sie plötzlich kam. Denn vorgestern hatte ich das Blatt genau betrachtet, da war sie noch nicht dagewesen. Die Buchstaben waren nicht mit der Feder geschrieben, sie schienen direkt aus dem festen Papier hervorgetreten, gesickert zu sein. Ich schüttelte den Kopf, damit die Sinnestäuschung schwinde. Sie schwand nicht. Ich zwickte mich in den Arm, um aufzuwachen.
    Und ich wachte auf. Der Schleier wich von meinen Augen, die Sanduhr drehte sich um, die Welt stellte sich vom Kopf auf die Füße.
    Auf mich wartet der Zarewitsch TOD. Er ist keine Chimäre und kein Hirngespinst. Es gibt ihn. Er liebt mich, ruft mich, und ich muß seinem Ruf folgen.
    Beim letztenmal, als Caliban mich von meinem Vorhaben abhielt, bin ich noch nicht bereit gewesen für die Begegnung – ich sorgte mich um Nichtigkeiten, quälte mich mit einem Abschiedsgedicht, zog die Zeit hin. Darum hat Er mir einen Aufschub gewährt. Aber jetzt ist die Stunde gekommen. Der mir Versprochene wartet auf mich, und ich gehe.
    Ich brauche mir nichts auszudenken, alles ist ganz einfach. Wie ich nach dem Weggang aussehe, ist unwichtig. Der Traum, Leben genannt, zerstiebt so oder anders, und ich werde einen neuen, unvergleichlich schöneren Traum sehen.
    Auf den Balkon hinaustreten, in die Dunkelheit. Das Eisentürchen öffnen. Gegenüber blinkt unter Mond und Sternen matt das Hausdach. Es ist nahe, aber hinüberzuspringen ist unmöglich. Und dennoch: in die Tiefe des Zimmers zurücktreten, Anlauf nehmen und sich über der Leere emporschschwingen. Das wird ein atemberaubender Flug – direkt in die Arme des Ewigen Geliebten.
    Mama und Papa tun mir leid. Aber sie sind so weit weg. Ich |266| sehe das Städtchen – Holzhäuschen inmitten weißer Schneewehen. Ich sehe den Fluß – schwarzes Wasser, auf dem riesige Eisschollen treiben. Auf einer Scholle steht Marja Mironowa, auf einer anderen sind eng zusammengedrängt die Menschen, die sie liebte. Der schwarze Riß wird breiter und breiter. Die Angara gleicht einem weißen Stück Stoff, das kreuz und quer zerschnitten ist.
    Und da ist auch das Gedicht. Ich brauche mir nicht den Kopf zu zerbrechen, muß es nur aufschreiben.
    Durch mein Leben geht ein Riß,
    Weil es fast wie Stoff verschliß.
    Und es fielen beide Teile –
    Auseinander, wie ihr wißt.
     
    Scharfes Messer schnitt im Nu,
    Wie es wollte, immerzu –
    Hin zur Mitte voller Eile,
    Denn so heilt es nicht mehr zu.
     
    Seht, zu keinem guten Ziel
    Führte dieses Lebensspiel:
    Von Irkutsk nach Moskau ziehend,
    Riß es auseinander viel.
     
    Einstmals war die Leinwand weiß,
    Nun schließt sich der schwarze Kreis.
    Auf das Weiße wieder fliehen,
    Ist unmöglich, ja ich weiß.
     
    Überm Abgrund – Sternenzelt,
    Unten – dunkle, kalte Welt.
    |267| Fortzurennen nur von allem –
    Weiß man denn, was einen hält?
     
    Und der Fuß fand keinen Halt.
    Am Uralgebirge bald
    Sieht man mich vom Himmel fallen
    In das Schneetuch, weiß und kalt.
    Das ist alles. Jetzt nur noch Anlauf nehmen und springen.
     
    An den Verleger
    Ich hatte keine Zeit, dieses konfuse, aber wahrheitsgetreue Gedicht zu überarbeiten und abzuschreiben. Ich bitte nur um eines: Tilgen Sie die Zeilen, die durchgestrichen sind. Die Leser sollen mich nicht so sehen, wie ich war, sondern so, wie ich mich zeigen will.
    M. M.«

3.
Aus dem Ordner »Agentenmeldungen «
    An seine Hochwohlgeboren Oberstleutnant Bessikow (persönlich)
     
    Gnädiger Herr Wissarion Wissarionowitsch!
     
    Sie sind sicherlich verwundert, daß ich Ihnen nach unserem gestrigen Treffen, das auf Ihr Verlangen stattfand und meinerseits mit Gebrüll, Verwünschungen und schmählichen Tränen endete, erneut schreibe. Vielleicht sind Sie auch nicht verwundert, denn Sie verachten mich und sind von meiner |268| Schwäche überzeugt. Das steht Ihnen frei. Wahrscheinlich haben Sie recht, und ich würde mich Ihren eisernen Händen nie entwunden haben, wenn sich in der vergangenen Nacht nicht Außergewöhnliches ereignet hätte.
    Betrachten

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