Magier von Moskau
notwendige Reparaturen oder schlechte Straßenverhältnisse erzwungen sind. Der letzte Umstand, nämlich der schauderhafte Zustand der Straßen, besonders im Weichsel-Gebiet, ist die größte Schwierigkeit bei dem riskanten Unternehmen. Erinnert sei an das Vorkommnis im letzten Jahr, als bei Pinsk das vierrädrige Automobil des Barons von Liebnitz in einer tiefen Rinne auseinanderfiel.
Der Start ist am Triumph-Tor. Herr Nameless wird begleitet von seinem Kammerdiener, der in einer Kalesche das Gepäck und die Ersatzteile für das Dreirad transportiert. Wir werden das Vorankommen des Wagemutigen verfolgen und regelmäßig die Telegramme abdrucken, die wir von den Stationen der komplizierten Route erhalten.
»Moskauer Nachrichten«, 22. September (5. Oktober) 1900, Seite 4
|260| 2.
Aus dem Tagebuch von Colombina
Ich wache auf, um einzuschlafen
»Es hat sich gezeigt, daß ich nichts weiß: wer ich bin, wozu ich lebe und was das Leben überhaupt ist. Gendsi hat einmal einen alten Japaner zitiert, der sagte: Das Leben ist ein Traum, den man geträumt hat.
Der alte Japaner hat völlig recht. Noch vor einer halben Stunde schien mir, daß ich wach wäre, daß ich viele Tage geschlafen hätte und erst wieder zu mir gekommen wäre, als mir der Strahl einer elektrischen Lampe in die Augen stach und eine aufgeregte Stimme fragte: ›Colombina, leben Sie?‹ In dem Moment träumte ich, ich wäre aus dem Schlaf erwacht. Ich schien aufs neue die Geräusche der realen Welt zu hören, die lebendigen Farben zu sehen. Der Glaskolben, der mich von der Wirklichkeit getrennt hatte, war zersplittert. Es gab keinen Ewigen Bräutigam namens TOD, auch keine Lockende Andere Dimension, keine mystischen Zeichen, keine Geister, keinen Ruf der Finsternis.
Nach jener Nacht, in der mich der gewöhnliche Tod fast hinweggerafft hätte, habe ich drei Tage lang meine imaginäre Freiheit genossen – habe viel gelacht und viel geweint, über jede alltägliche Kleinigkeit gestaunt, Kuchen gegessen und mir ein einzigartiges Kleid genäht. Dabei habe ich mir alle Finger zerstochen, denn der Stoff war sehr störrisch. Jedesmal habe ich aufgeschrien und mich gefreut, denn der Schmerz bestätigte die Realität des Seins. Als könnte man nicht auch den Schmerz träumen!
Heute zog ich mein umwerfendes Gewand an und konnte mich daran nicht satt sehen. Solch ein Kleid hat niemand |261| sonst. Es ist aus ›Teufelshaut‹ – glänzt, schillert, knistert. Gendsi hat sich für seine Motorradfahrt einen Reiseanzug aus diesem Stoff nähen lassen, und ich habe mich sofort in ihn verguckt.
Das Kleid ist eigentlich untragbar, man schwitzt darin oder man friert, doch herrlich, wie es glitzert! Auf der Straße haben sich die Leute unentwegt nach mir umgedreht.
Ich war absolut sicher, daß die Sonne, der Himmel, das knisternde Kleid und der gutaussehende Mann mit den ruhigen blauen Augen wirklich existieren, daß eben dies das reale Leben ist, daß ich nichts weiter brauche.
Die bunte Gauklerbude, errichtet von dem alten Scharlatan Prospero, ist beim ersten Hauch eines frischen,
wirklichen
Windes in sich zusammengefallen wie ein Kartenhaus.
Gendsi begleitete mich wieder bis zur Tür, wie gestern und vorgestern. Er denkt, daß ich nach dem Überfall Angst habe, allein die Treppe hinaufzusteigen. Angst hatte ich überhaupt nicht, doch seine Begleitung war mir angenehm.
Er behandelt mich wie eine Porzellanvase. Beim Abschied küßt er mir jedesmal die Hand. Ich bin sicher, daß ich ihm nicht gleichgültig bin. Aber er ist ein Gentleman und fühlt sich wahrscheinlich gehemmt, weil er mir das Leben gerettet hat. Vielleicht fürchtet er, ich könnte ihn nur aus Dankbarkeit nicht zurückweisen. Wie lächerlich! Als ob Dankbarkeit etwas mit Liebe zu tun hätte. Aber so gefällt er mir noch besser.
Macht nichts, dachte ich. Es hat keine Eile. Soll er erst seine alberne Motorradtour hinter sich bringen. Denn wenn sich jetzt etwas zwischen uns entsponnen hätte, könnte er nicht seinen Benzinesel ausprobieren, aber das möchte er so gern. Männer sind wirklich kleine Jungs, in jedem Alter.
Wenn er aus Paris zurück ist, werde ich mich um ihn |262| kümmern. So Gott will, geht sein Motorrad hundert Werst hinter Moskau kaputt, und er ist bald wieder da, träumte ich. Aber ich bin auch bereit, drei Wochen zu warten, mag er seinen Rekord aufstellen. Das Leben ist lang, und für Freude bleibt noch so viel Zeit.
Ich habe mich geirrt. Das Leben ist kurz. Gendsi ist mir
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