Magier von Moskau
nur im Traum erschienen wie auch alles übrige – die Sonne, der Himmel, das neue Kleid.
Gerade erst bin ich aufgewacht.
Ich kam nach Hause, trank Tee und stellte mich vor den Spiegel, um voller Freude die ›Teufelshaut‹ im bläulichen Licht der Lampe glitzern zu sehen. Plötzlich fiel mein Blick auf das ledergebundene Buch mit Goldschnitt. Ich setzte mich, schlug das Buch bei dem Lesezeichen auf und vertiefte mich in die Lektüre.
Es ist das Abschiedsgeschenk von Prospero. Ein mittelalterliches deutsches Traktat mit dem langen Titel ›Die heimlichen Betrachtungen eines Anonymus über selbst Erlebtes und von vertrauenswürdigen Menschen Gehörtes‹. Vorgestern, als alle das Haus verließen, ohne dem Dogen auch nur ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen, hatte ich an der Tür, gerührt von seinem flehenden Blick, kehrtgemacht, ihm die Hand gedrückt und einen Kuß auf die Wange gegeben – in Erinnerung an alles, was zwischen uns war.
Er verstand, was dieser Kuß bedeutete, und versuchte nicht, ihn zu erwidern oder mich in die Arme zu nehmen.
›Leben Sie wohl, mein Kind‹, sagte er traurig; mit dem Siezen wollte er mir wohl zu verstehen geben, daß alles zu Ende war. ›Sie sind mein später Festtag, und Festtage dauern nie lange. Danke, daß Sie mein müdes Herz mit dem Widerschein Ihrer Freundlichkeit gewärmt haben. Ich habe ein |263| kleines Geschenk für Sie bereitgelegt – als Zeichen meiner Dankbarkeit.‹
Er nahm vom Tisch ein schmales Buch mit rötlich verfärbtem Kalbsledereinband und zog aus der Tasche ein Blatt Papier.
›Sie brauchen nicht das ganze Traktat zu lesen, es enthält viel Dunkles und Unverständliches. Wozu sollen Sie in Ihrem Alter den Verstand mit trauriger Weisheit belasten? Aber lesen Sie unbedingt das Kapitel
Fälle, in denen die Liebe stärker ist als der Tod
– ich lege das leere Blatt hier an dieser Stelle ins Buch. Beachten Sie das erlesene Papier, es stammt aus dem sechzehnten Jahrhundert und trägt die Wasserzeichen des Königs Franz I. Das kleine Blatt ist weitaus wertvoller als das Buch, obwohl dieses zweihundert Jahre alt ist. Wenn Sie das genannte Kapitel gelesen haben, möchten Sie mir vielleicht einen kurzen Brief schreiben. Benutzen Sie dazu das Blatt Papier – mit Ihrer Schrift geschmückt, wird es zu einer der kostbarsten Reliquien meines leeren und nichtigen Lebens … Und denken Sie nicht schlecht von mir.‹
Ich betrachtete neugierig das Blatt Papier. Gegen das Licht sah ich eine bauchige Lilie und den Buchstaben F. Prospero hat Sinn für schöne Dinge. Ich fand sein Geschenk rührend, altmodisch, geradezu entzückend.
Zwei Tage ließ ich das Buch unbeachtet liegen – mir war nicht nach der Lektüre von Traktaten zumute. Aber als ich mich für ganze drei Wochen von Gendsi verabschiedet hatte, wollte ich doch sehen, ob mir der mittelalterliche Autor etwas Neues über die Liebe mitzuteilen hatte.
Ich nahm das Lesezeichen heraus, legte es beiseite und begann zu lesen. Ein gelehrter Kanonikus, dessen Name auf dem Umschlag lediglich mit dem Buchstaben W. angegeben war, behauptete, daß im ewigen Widerstreit von Liebe und |264| Tod gewöhnlich letzterer die Oberhand gewinne, aber manchmal, sehr selten, komme es vor, daß die selbstvergessene Liebe zweier Herzen die Grenze überschreite, die einem Sterblichen gesetzt sei, und sich in die Ewigkeit rette; so werde sie vom Lauf der Zeit nicht getrübt, sondern strahle im Gegenteil immer heller. Das Unterpfand für die Verewigung der Leidenschaft sah der merkwürdige Kanonikus im Doppelselbstmord, zu dem die Liebenden Zuflucht nehmen müßten, um vom Leben nicht getrennt zu werden. Auf diese Weise, so der Autor, unterwürfen sie den Tod dem Gefühl der Liebe, und der Tod werde auf ewig ein treuer Sklave der Liebe.
Ermüdet von den langen Satzperioden des mittelalterlichen Freigeistes und von der gotischen Schrift, hob ich den Blick von den gelben Seiten und überlegte, was das zu bedeuten hatte. Damit meine ich nicht den Text, dessen Sinn trotz aller Schwülstigkeit klar ist, sondern das Geschenk. Will Prospero mir sagen, daß er mich liebt und daß sein Gefühl stärker ist als der Tod? Daß er in Wirklichkeit kein Diener des Todes ist, sondern immer nur der Liebe gedient hat? Und daß ich ihm schreiben muß?
Ich beschloß, so zu beginnen: ›Lieber Doge, ich werde Ihnen immer dankbar sein, denn Sie haben mir die Prinzipien der beiden wichtigsten Disziplinen – der Liebe und des Todes – nahegebracht. Doch diese
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