Magierdämmerung 03 - In den Abgrund
Phänomen ist nicht natürlichen Ursprungs.«
Rupert stieß ein drohendes Zischen aus. Offensichtlich spürte der Minialligator Jonathans Aufregung und wurde dadurch selbst unruhig.
In Kendra neben ihm kam Bewegung. Jonathan sah, wie McKellens Enkelin zurück zu dem Stein lief, neben dem noch immer der Koffer mit dem Quellschloss stand. Sie hob ihn hoch und presste ihn an sich, als wolle sie verhindern, dass irgendein namenloser Schrecken, der sich im Inneren des Nebels verbarg, ihnen das Artefakt entriss. »Wo ist Nevermore bloß?«, fragte sie und blickte sich um. Randolphs Rabe war vor einigen Stunden aufgebrochen – um etwas zu fressen zu finden, wie Jonathan annahm – und bis jetzt noch nicht zurückgekehrt.
»Keine Angst. Er ist genauso zäh wie sein Herr«, sagte Jonathan, wohl wissend, dass Herr und Diener eigentlich die falschen Bezeichnungen für die Beziehung zwischen einem Magier und seinem Vertrautentier war. »Er kann schon auf sich aufpassen.«
»Kommen Sie wieder her, Miss McKellen.« Robert winkte Kendra zu sich. »Wir sollten zusammenbleiben. Dieser Nebel sieht wirklich unerfreulich dicht aus. Wenn wir uns darin verlieren und anfangen, nach den anderen suchend umherzuirren, laufen wir womöglich noch Gefahr, fehlzutreten und die Klippen hinabzustürzen.«
Während Kendra sich rasch zu ihnen gesellte, versuchte Jonathan, in der Wahrsicht die glühenden Schwaden mit Spürfäden zu durchdringen, um herauszufinden, ob er auf diese Weise mehr über den Nebel in Erfahrung bringen konnte. Ein eigenartiges Gefühl überkam ihn, als seine Spürfäden von den Nebelschwaden verschluckt wurden. Es war, als wollte man in ein Meer aus Watte eintauchen. Er nahm einen sanften und beständigen Widerstand wahr, der immer stärker wurde, je tiefer er in die Wolke vorzudringen versuchte. Ansonsten war da nichts – was möglicherweise aber auch daran lag, dass seine Erfahrung im Umgang mit Spürfäden noch ziemlich begrenzt war.
Ein lautes Krächzen und Flattern schreckte Jonathan aus seinen Betrachtungen. »Nevermore!«, rief Kendra und streckte einen Arm aus.
Jonathan ließ zu, dass die Wirklichkeit die Wahrsicht wieder verhüllte, und sah gerade noch, wie der Kolkrabe auf der einladend erhobenen Hand der jungen Frau landete. »Da bist du ja endlich wieder«, fuhr Kendra an den Vogel gerichtet fort. In ihrer Stimme schwang deutliche Erleichterung mit.
»Damit wären wir alle beisammen«, bemerkte Robert. »Und das keinen Augenblick zu früh. Hier kommt er.«
Lautlos brandete die Nebelwand gegen die Klippen von Anvil Point. Im nächsten Augenblick fluteten die Ausläufer des Nebels über den Klippenrand und hüllten Jonathan, Kendra, Robert und die beiden Tiere ein. Von einem Moment zum nächsten wurde es geisterhaft still um sie. Der Wind setzte aus, das Rauschen des langen Ufergrases verebbte, und auch das Kreischen der Seevögel wurde zunächst immer leiser und war schließlich gar nicht mehr zu hören.
Beunruhigt rückten die drei zusammen. Rupert bewegte sich aufgeregt in Jonathans Tasche und zischte erneut. »Keine Angst, es ist nur Nebel, nichts weiter«, versuchte dieser, dem Minialligator gut zuzureden. »Der kann dir nichts tun.« Er hoffte, dass das der Wahrheit entsprach.
Kalt und klamm legte sich der weiße Dunst auf ihre Hände und Gesichter. Mittlerweile gab es keinen Zweifel mehr. Es war deutlich kälter geworden. Jonathan blickte zu Kendra hinüber, die sich fröstelnd den Koffer mit dem Quellschloss an die Brust drückte. Es kam also nicht nur ihm so vor, als würden hauchdünne Nebelfinger durch ihre Kleidung dringen und danach trachten, ihnen auch noch die letzte Wärme aus dem Leib zu saugen.
»Teufel, es fühlt sich an, als würde die ganze Welt einfrieren«, knurrte Robert. »Vielleicht hätten wir doch versuchen sollen, in Richtung des Leuchtturms zu fliehen, an dem wir unsere Kutsche abgestellt haben.«
»Dafür ist es jetzt zu spät«, sagte Jonathan. »Bei dieser Sicht finden wir den Leuchtturm nie.«
»Wir könnten zumindest versuchen, ihn zu erreichen«, gab sein Freund zurück. »Hier auszuharren ergibt nun wahrlich keinen Sinn mehr. Kein Schiff, dessen Kapitän halbwegs klaren Verstandes ist, würde es wagen, sich in diesem Nebel einer Steilküste zu nähern.«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als urplötzlich der Nebel aufriss und verwirbelt wurde wie Staub in einer heißen Wüstenbrise. Ein riesiger, nachtschwarzer Schiffsrumpf tauchte aus den Schwaden auf und
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