Magische Insel
erfahren, warum sie es so nannte. Einmal habe ich sie gefragt, doch sie lächelte nur und meinte, sie habe den Namen irgendwo aufgeschnappt.
Auf dem Tisch stand ein Tablett mit zwei geeisten Gläsern und einigen Scheiben frisch gebackenen Brots, Käse und Apfelstücken. Das Brot dampfte noch und füllte den kleinen Raum mit köstlichem Duft.
Onkel Sardit ließ sich auf dem Stuhl nieder, der der Küche am nächsten war. Ich nahm den anderen. Irgendwie störte es mich, dass das Tablett bereits dastand. Es störte mich ganz ungemein.
Leise Schritte ließen mich aufhorchen. Onkel Sardit stellte sein Glas mit eisgekühltem Fruchtpunsch ab und nickte Tante Elisabet zu. Sie war – wie mein Vater – hellhäutig, mit sandfarbenem Haar, schlank und hochgewachsen. Onkel Sardit war kleiner und drahtig, mit Salz-und-Pfeffer-Haaren und einem kurzgeschnittenen Bart. Beide schauten schuldbewusst drein.
»Du hast recht, Lerris. Wir haben ein schlechtes Gewissen, vielleicht weil du Gunnars Sohn bist«, sagte Tante Elisabet.
»Aber das ändert nichts«, fügte Onkel Sardit hinzu. »Du musst trotzdem die Entscheidung fällen – ganz gleich, ob du unser Neffe bist oder nicht.«
Ich nahm einen großen Schluck Fruchtpunsch und vermied somit, etwas zu sagen, obgleich mir klar war, dass Tante Elisabet das wusste. Sie wusste immer alles. Mein Vater auch.
»Iß etwas. Ich rede. Wenn ich etwas auslasse, wird Elisabet es ergänzen.« Onkel Sardit nahm eine Scheibe Käse und Brot und kaute langsam. Dann schluckte er alles hinunter und spülte mit Fruchtpunsch nach.
»Magister Kerwin hätte dir beibringen sollen, wie er es mir beigebracht hat, dass ein Meister oder Geselle, der einen Lehrling ausbildet, auch für die Entscheidung verantwortlich ist, wann der Lehrling soweit ist, das Handwerk auszuüben.«
Ich nahm etwas Brot und Käse. Es war doch ganz klar, dass der Meister für den Lehrling verantwortlich war.
»Was er dir jedoch nicht gesagt hat – und mir auch nicht, dass der Handwerksmeister auch entscheiden muss, ob der Lehrling jemals so weit kommen wird, das Handwerk auszuüben, oder ob er in die Gefahrenbrigade eintreten oder in die Verbannung gehen sollte.«
»Verbannung …?«
»Siehst du, Lerris, in Recluce ist kein Platz für verschwommene Unzufriedenheit«, meinte Tante Elisabet. »Langeweile, die Unfähigkeit, sich zu konzentrieren, die Unwilligkeit, sich nach besten Kräften und Fähigkeiten für etwas einzusetzen – das alles könnte dem Chaos erlauben, in Recluce Fuß zu fassen.«
»Du stehst also vor der Entscheidung, Lerris, ob du die Ausbildung in der Gefahrenbrigade antreten oder lieber Recluce verlassen willst – für immer.«
»Bloß weil ich mich langweile? Bloß weil ich die Holzzwinge etwas zu fest angezogen habe? Deswegen soll ich zwischen Verbannung und Gefahrenbrigade wählen?«
»Nein, sondern weil deine Langeweile ein Zeichen für deine Unfähigkeit ist, dich für etwas wirklich einzusetzen. Wenn jemand sein Bestes gibt, aber trotzdem schlampig arbeitet, ist das keine Gefahr. Solange jemand ehrlich nach Vollkommenheit strebt, ist eine schlampige Arbeit nicht gefährlich, vorausgesetzt natürlich, dass niemand durch die Schlamperei in Lebensgefahr gerät.« Tante Elisabet wirkte noch größer als sonst. Hinter ihren Augen leuchtete ein Feuer.
Ich schaute zu Boden.
»Kannst du ehrlich behaupten, dass du glücklich bist, wenn du nach Vollkommenheit beim Schreinern gestrebt hast?« fragte Onkel Sardit.
»Nein.« Ich konnte nicht lügen. Tante Elisabet wüsste es.
»Glaubst du, dass es dir leichter fiele, wenn du länger mit mir arbeiten würdest?«
»Nein.«
Ich nahm noch eine Scheibe Brot und ein Stück Käse. Ich konnte mich nicht erinnern, schon etwas gegessen zu haben, aber offensichtlich hatte ich es getan. Ich trank einen Schluck Fruchtpunsch, doch nur genug, um mir den Mund anzufeuchten, da mir bereits eiskalt war.
»Und was nun?« fragte ich, ehe ich nochmals abbiss.
»Falls du dich für die Gefahrenbrigade entscheidest, werden die Meister mit dir so lange arbeiten, wie es ihrer Meinung nach nötig ist, um dich für deinen Einsatz vorzubereiten. Nach der Ausbildung kannst du nicht zurückkehren, bis du die Aufgabe erfüllt hast, die dir aufgetragen wurde. Solltest du die Verbannung wählen, musst du gehen. Du kannst nicht zurückkehren, es sei denn, die Meister erlauben es dir. Es ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, doch haben sie diese Erlaubnis nur sehr selten
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