Magisches Spiel
ich jemals wieder in der Lage sein würde, mich in geschlossenen Räumen aufzuhalten. Ich mag keine Wände.
Er benutzte die Gegenwartsform. Sie holte Atem und stieß ihn aus. Ihre Hände ließen den Schössling los, und sie setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Füße schlugen den Weg zu ihrem Lager ein, obwohl ihr Gehirn Nein dazu sagte. Wo steckte ihr Selbsterhaltungstrieb? Warum hatte seine Stimme diese enorme Wirkung auf sie? Sie wusste nur, dass sie innerlich um dieses unschuldige Kind weinte. Und noch mehr weinte sie um den Mann, der er geworden war.
Ich bin stundenlang in meinem Versteck geblieben, vielleicht auch tagelang, ich weiß es nicht. Mir hat gegraut, nicht einmal
so sehr davor, getötet zu werden – ich glaube, diese Furcht hatte ich längst überwunden –, sondern viel mehr vor dem, was ich vorfinden würde. Ich dachte, die Schreie seien das Schlimmste – und das Flehen –, und ich habe gebetet, es möge aufhören. Aber dann herrschte Stille. Eine Stille, die von nichts durchbrochen wurde. Ich konnte keine Schritte hören, keine Rufe, noch nicht einmal Atemzüge. Nach einer Weile war ich nicht einmal mehr sicher, ob ich noch am Leben war.
Sie hatte nicht erlebt, dass ein Serienmörder ihre Familie auslöschte, aber sie war jetzt dabei gewesen und hatte die letzten Gedanken der Opfer gehört, ihre Ängste und Schreie und ihr schmerzerfülltes Wimmern, ihre letzten keuchenden Atemzüge und dieses entsetzliche Rasseln, das ihr nicht aus dem Kopf ging. Sie brauchte keinen Gegenstand zu berühren, um die Bilder in lebhaften Einzelheiten vor sich zu sehen. Sie war in Kadens Kopf, und dort waren die Bilder für alle Ewigkeit eingebrannt. Jetzt waren sie auch in ihrem Kopf. Sie war nicht gut darin, Blut und Tode abzuschütteln. Tansy hob eine Hand und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Das Erste, was ich gesehen habe, als ich die Klappe aufgestoßen habe, war das Gesicht meines Bruders. Seine Augen waren offen, und er hat mich angestarrt. Manchmal kann ich nicht schlafen, und ich sehe seine Augen, und ich weiß, dass es meine Aufgabe war, sie zu finden und sie für das, was sie getan hatten, büßen zu lassen. Aber dann rufe ich mir ins Gedächtnis zurück, dass ich nicht mehr acht Jahre alt bin. Und ich denke, dass er tot war und dass außer einem starren Blick nichts mehr von ihm übrig war. Daher kann ich ihm nicht wirklich die Schuld geben. Seine Augen sahen aus wie Glas. Komm zurück zu mir, Tansy. Ich brauche dich heute Nacht.
Sie hatte Augen gesehen, die wie Glas aussahen. Zu
viele solcher Augen. Auch sie schlief nachts nicht viel und hatte sich deshalb entschlossen, nachts bis zur Erschöpfung zu arbeiten und im Lauf des Tages mehrere Nickerchen zu machen. Wenn sie im Dunkeln die Augen schloss, umgaben sie die Toten und starrten sie mit glasigen Augen an. Sie hatte sie nicht gerettet. Sie hatte zu lange gewartet, bevor sie sich freiwillig gemeldet hatte. Sie hatte gezögert. Sie hatte zu lange gebraucht, um ihre Fährte aufzuspüren. Ganz gleich, aus welchem Grund – sie hatte sie nicht gerettet. Vielleicht musste sie es so sehen. Sie waren längst tot, und geblieben war nichts als ihr eigenes Schuldgefühl.
Mein Vater hatte versucht, meiner Mutter Deckung zu geben, das konnte ich deutlich sehen. Er hatte versucht, sie zu schützen, aber sie hatten sie getötet, und ich konnte sie nicht anrühren. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, einen von ihnen anzurühren. Du weißt doch, wie Kinder in Filmen immer den toten Elternteil oder den geliebten Menschen küssen? Also, ich konnte mich ihnen nicht mal nähern. Mir war übel. Und ich war wütend. Und es hat mir eine solche Angst gemacht, allein zu sein. Ich habe in dem Blut umhergetastet. Es war so klebrig. Ich glaube nicht, dass es mir jemals gelingen wird, mich davon reinzuwaschen. Manchmal fühlt es sich an wie eine zweite Haut. Ich habe in dem Blut umhergetastet, bis ich die Waffe meines Vaters gefunden hatte, und dann bin ich aus dem Haus gegangen.
Ihr Herz begann so heftig in ihrer Brust zu hämmern, dass ihr Atem keuchend und abgehackt ging. Sie war jetzt ganz und gar bei ihm, in seinem Innern eingesperrt, und seine Gefühle waren ihre Gefühle. Sie war dieser achtjährige Junge, der zu viel Kummer empfand – und zu große Wut. Instinktiv versuchte sie, sich zurückzuziehen und
sich von ihm zu lösen, doch seine sanfte, erbarmungslose Stimme weigerte sich, sie gehen zu lassen.
Komm jetzt zurück zu mir, Tansy. Ich bin
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