Magna Mater - Roman
anhänglich und ungestüm. Ein Welpe, nach Zuneigung und Zärtlichkeit lechzend, aufmerksam für alles, was ihn interessiert, aber von erstaunlicher Gleichgültigkeit, wenn ihn etwas langweilt.
Die Bilder, die die Erinnerung heraufbeschwört, verflüchtigen sich so rasch wie Seifenblasen. Mit geschlossenen Augen sehe ich sie vor mir: ein Mädchengesicht mit schwarz gelocktem Haar und leuchtenden Kinderaugen. Fohlen haben so lange Beine und so zottelige Mähnen. Zögernd nur wich die knabenhafte Schlankheit den weichen Rundungen. Schon bald war sie eine wahrhaft Blühende. In ihrer Gegenwart begann alles zu leuchten. Nie zuvor habe ich mich an der Natur so erfreut. Die Morgenröte über dem Meer und die Sterne am Nachthimmel strahlten heller als sonst. Die einfachsten Alltagsbeschäftigungen erschienen mir in ihrer Gegenwart so aufregend neu, als hätte ich dergleichen nie zuvor erlebt.
Strahlende Bilder der Erinnerung: Trauben pflücken und hineinbeißen. Über lachende Mädchenlippen fließt der Saft, färbt helle Haut scharlachrot. Oder Kopfschmuck flechten aus Blüten vom Feuerstrauch, Goldrute und Ehrenpreis. Bei Tagesdämmerung barfuß durch das taufeuchte Gras zum Bach laufen, um das Liebesspiel der Fischottern zu belauschen.
Nachts erzählten wir uns Geschichten: Die eine begann, und die andere musste den Faden weiterspinnen. Schaurige Moritaten waren das. Meist begann Merimé:
»Auf der Insel Kytera lebte eine Ordensfrau …«
»… die war so alt und faltig wie eine Schildkröte …«
»Sie hatte nur noch zwei Zähne, und die waren schwarz …«
»… schwarz vor Trauer über ihre dahingeschiedenen Schwestern.«
»Ihr selber war Trauer fremd, denn sie war eine …«
»… eine von denen, die sich auf der Liebesinsel um die Toten kümmern.«
»Sie küsste …«
»… die im Liebesrausch Gestorbenen.«
»Denn sie wollte wissen, wie die Liebe schmeckt.«
Die bleiche Sichel des zunehmenden Mondes schien durch das geöffnete Fenster. Wir teilten uns das Kopfkissen, und ich lauschte ihrem gleichmäßig dahinfließenden Atem.
Ein Sommertag bei hohem Wellengang im Boot: Der Regen prasselte auf uns nieder, und wir haben laut dagegen angesungen. Besteht nicht alles Glück darin, jeden Augenblick zu leben?
Ich will das Glück von damals nicht nachträglich übertrieben ausschmücken; ich muss vielmehr darauf achten, dass die Bilder der Erinnerung nicht zu blass geraten.
Sie war mir sanftmütig ergeben, aber keinesfalls unterwürfig. Wenn die folgsam gesenkten Lider sich hoben und sie mich aus wachen Augen anblickte, fühlte ich mich ihr unterlegen. Sie verehrte mich, so wie ich sie verehrte, aber sie tat es aus respektvoller Distanz. Ich vermag nicht zu sagen, wann daraus Liebe wurde. Ich habe Merimé von Anfang an geliebt. Ihre Liebe brauchte Zeit. Blüten öffnen sich so behutsam.
Ihr junger Leib wandelte sich. Doch nicht nur die Zeit veränderte ihn ständig. Ein Tag am Strand genügte, um ihre Haut dunkel wie Kauriholz zu färben. Ein Nachmittag über aufgeschlagenen Büchern, und ihre Lippen verzogen sich zum Schmollmund. Ihr Gesicht veränderte sich, und ich bildete mir ein, daran nicht unbeteiligt zu sein. Wenn meine Fingerspitzen über ihre Schläfen strichen oder meine Hände über ihre glatte Haut, dann fühlte ich mich wie ein Töpfer, der einer Tonfigur Gestalt verleiht. Formte ich sie? Ja, ich bin sicher, ich formte sie nach dem Bild, das ich mir von ihr gemacht hatte.
Sie wollte gestreichelt werden, und ich genoss es, sie mit meinen Händen zu erkunden, den sanften Schwung ihrer Hüften, die gewölbte feine Linie ihres Rückens vom allerfeinsten Nackenhaar hinab bis zu den Wölbungen ihrer Pobacken. Samtgolden schimmerte ihre Haut. Sie spürte meine Blicke auf ihren Brüsten und schien meine Erregung zu genießen.
»Gefalle ich dir? Ich möchte dir gefallen.«
Ihre Stimme lud mich ein, sie zu umarmen. Ich liebkoste sie, so wie das Kinder untereinander tun. Aber schon bald sollte sich das ändern. Liebe ist Verlangen, gepaart mit Zärtlichkeit. Zärtlichkeit verwandelte sich in Sehnsucht. Verlangen drängte nach lustvoller Erfüllung. Wir liebten uns mit der Hingabe, die alles andere auslöscht. Es gab keinen Orden mehr, keine Blühenden und keine Reifen. Wann war gestern? Gab es ein Morgen? Wir fühlten uns wie zwei Kinder. Nein, nicht wie Kinder. Kinder lieben sich nicht so, wie wir uns liebten.
Blühende sind schwesterlich miteinander verbunden wie die Immen eines Bienenvolkes. Für
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