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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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vom Orden angenommen. Widerstand gab es nur vonseiten der Erwählten. Merimé wollte bei den anderen Blumenkindern bleiben. Zwar wagte sie nicht zu widersprechen, dafür war der Respekt vor dem Orden zu groß, aber man sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, die vertraute Welt ihrer Freundinnen verlassen zu müssen.
    »Warst du nie ein Blumenkind?«, fragte sie mich.
    »Nein, ich war bei der Aufnahme zur Novizin noch zu jung für diese Aufgabe.«
    »Du Arme. Dann hast du die wunderbare Welt der Blumen nie kennengelernt.«
    Ich versuchte, ihr klarzumachen, dass Lesen und Schreiben erstrebenswertere Tätigkeiten seien als Säen, Jäten, Graben und Ernten. Sie schüttelte ihren schönen Kopf und meinte, der Umgang mit ihren Blumen und Gewächsen sei ein Spiel, das Vollstopfen des Kopfes mit Buchstaben sei Arbeit. Und die Arbeit – der Vernunft sei Dank – sei ja wohl abgeschafft worden, so habe sie es jedenfalls in der Schule gelernt.
    Nun war ich an der Reihe zu widersprechen: »Unsere spielerische Beschäftigung hat nichts mit der Arbeit der zivilisierten Kulturmenschen zu tun. Die Jäger und Sammler der Steinzeit haben nicht gearbeitet. Sie haben sich Futter gesucht und Wild gejagt wie die Tiere. Vielleicht haben sie sich auch ein Nest gebaut, wie das die Vögel tun. Aber Tiere arbeiten nicht für Lohn oder unter Zwang. Ihre Tätigkeit ist ein Teil ihres natürlichen Daseins. Kein Tier käme auf die aberwitzige Idee, den größten Teil des Tages hinter einem Schreibtisch oder an einer Werkbank zu verbringen, ohne Rücksicht darauf, ob ihm die zeitraubende Tätigkeit Freude bereitet oder nicht.«
    »Und warum haben die Menschen es dann gemacht?«, fragte Merimé.
    »Um Geld zu verdienen, das man benötigte, um Essen, Unterkunft, Kleidung und andere Dinge zu kaufen. Die Arbeit lastete wie ein Fluch auf der Menschheit, und das war sie auch, ein Fluch Gottes bei der Vertreibung aus dem Paradies: Im Angesicht des Schweißes sollst du dein Brot verdienen, heißt es da.«
    »Das klingt nicht gut«, meinte Merimé, und sie sagte es mit so mitleidiger Mimik, dass ich lachen musste.
    Mit einem Gespräch über die Arbeit begann einer meiner glücklichsten Lebensabschnitte. Es ist schon ein Unterschied, ob man mit einem alten Menschen sein Leben teilt oder mit einem jungen. War ich bisher diejenige gewesen, die die Fragen gestellt hatte, so musste ich nun den Wissensdurst eines sehr lebhaften Mädchens stillen. Sie war ja noch ein Kind, das lieber bei den anderen Kindern im Garten geblieben wäre.
    Sie war voller Fragen. Am Strand wollte sie wissen: »Warum heißt die Erde eigentlich Erde, wo sie doch bis auf ein paar Inseln aus Meer besteht? Ozeanien oder Mare wäre doch ein viel schönerer Name.« Oder sie fragte:
    »Warum soll ich lernen, mich in Buchstaben auszudrücken? Die Schrift ist ein so armseliges Gedankengefäß. Wie kann ich aufschreiben, wie die Amsel ruft oder wie der Jasmin duftet? Kein Buch kann den Unterschied zwischen meiner und deiner Stimme festhalten.«
    Sie konnte auch sehr witzig sein. Als ich ihr erzählte, Pflanzen würden besser gedeihen, wenn man liebevoll mit ihnen redete, da sagte sie: »Dann sollten wir in den Garten gehen und das Unkraut ausschimpfen?«
    Sie hinterfragte alles und wollte ständig verändern und verbessern. Dann musste ich ihr immer wieder ins Gedächtnis rufen: Veränderung ist die Mutter aller Verhängnisse.
    Bisweilen war sie still, antwortete nicht auf meine Fragen. Dann merkte ich, dass sie lautlos weinte. Schweigend überließ ich sie ihren Tränen. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft Heimweh ist.
    Die Tage verbrachten wir spielend mit Lernen, Gartenarbeit und Umherreisen. Einschlafend hielten wir uns in den Armen. Ihr Gesicht leuchtete im Halbdunkel. Wie ich das alles in meinem Gedächtnis bewahrt habe, auch die kleinsten Dinge: Der dunkle Bogen ihrer Augenbrauen, der schmale Spalt zwischen ihren Schneidezähnen, das kleine Mal an ihrem linken Mundwinkel, der helle Halbmond an den Fingernägeln ihrer schlanken Finger, die Schultern im Kerzenlicht. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich das alles vor mir, und ich fühle, wie der Schmerz der Erinnerung mein Herz berührt.

9. KAPITEL
    I ch war besorgt um meine kleine Merimé wie eine Tiermutter, die ihre Jungen nicht aus den Augen lässt und viel Zeit damit verbringt, ihnen zärtlich das Fell zu lecken.
    Sie war wie eine Katze: leise, geschmeidig und verspielt. Dann wieder erinnerte sie mich an einen jungen Hund:

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