Magna Mater - Roman
abgesucht. Bei Sonnenaufgang war ich bereit, ihr zu folgen.
Ein paar Blühende fanden mich auf dem Strand, ohne Bewusstsein. Die Wellen hatten mich an Land gespült. Das Meer wollte mich nicht.
In meinen Träumen – und ich träume oft von ihr – ist sie ein Delphin. Dann gleiten wir durch die Fluten, lauschen dem Gesang der Wale und tauchen hinab bis auf den tiefsten Meeresgrund, wo uns keiner zu finden vermag.
»Wie schön du bist, Merimé!«
Sterne leuchten am hellsten, bevor sie verglühen. Aber erlischt ein Stern, ist es viel dunkler als wenn er nie geleuchtet hätte.
11. KAPITEL
M an altert schubweise. Bisweilen verweilt man für einige Zeit auf der gleichen Reifestufe. Dann schlägt die Zeit zu, und man ist um Jahre gealtert. So erging es mir nach Merimés Tod.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Die Zeit ist die Wunde.
Meine Liebe zu Merimé hat mich gelehrt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Wenn ich daran denke, wie mitleidlos ich früher jeden Verstoß gegen die Vernunft verfolgt wissen wollte, dann erfüllt mich das noch heute mit Scham.
Da war die traurige Geschichte mit den Blühenden von Gemora. Ich war damals noch eine junge Ordensfrau und hatte mir nicht vorzustellen vermocht, dass es dergleichen geben könnte: Blühende hatten versucht, ihre Kindheit abzustreifen wie ein lästiges Gewand.
Begonnen hatte es mit einer Inspektionsreise zu einer dieser Inseln am östlichen Rand unseres Archipels. Gemora ist nicht nur ein großes, sondern auch ein sehr bedeutendes Eiland, denn hier reift das Korallin, der Stoff aller Stoffe, heran.
Bei Sonnenaufgang machten wir die Leinen los. Wir waren zu dritt: der Bootsmann Baal, Mater Metaxa, die älteste unter uns Ordensfrauen, und ich. Und da der Rang im Orden mit den Lebensjahren wächst, genoss Metaxa nach der Magna Mater das höchste Ansehen. Sie war eine knochige Person mit krummem Rücken und kurzsichtigen Augen unter ergrauten Brauen. Was ihr an Sehschärfe fehlte, besaß sie umso reichlicher an Verstandesschärfe.
Obwohl ich mich geehrt fühlte, die alte Metaxa begleiten zu dürfen, nahm ich nur widerwillig an der Exkursion teil, denn meine Arbeit in der Bibliothek hatte gerade erst begonnen, und ich fühlte mich sehr wohl in dem Zentralarchiv, in dem die historischen Dokumente der alten Menschheit unter Verschluss gehalten werden. Entdeckungsreisen in die Welt von gestern erschienen mir wesentlich verlockender als eine Schiffsreise mit einer alten Ordensschwester.
Zum Glück war das Meer zwischen den Inseln so ruhig wie ein Waldsee. Wir lagen an Deck unter einem Sonnensegel in bequemen Bordstühlen und tranken gekühlten Papayasaft. Unsere Gespräche drehten sich um den Stoff der Stoffe. Baal, der Bootsmann, der sein dreißigstes Lebensjahr vermutlich längst überschritten hatte, aber immer noch wie ein großer Junge aussah, schwärmte von Gemora: »Nirgendwo trifft man so viel fröhliches Volk. Die Luft ist erfüllt von Musik und Gesang. Die Trommeln ruhen selbst nachts nicht. Gemora ist für mich die schönste aller Inseln. Waren die Fabriken der alten Menschheit wirklich so abstoßend, wie man es uns in der Schule erzählt hat?«
»Menschenunwürdige Dreckschleudern waren das«, meinte Mater Metaxa und schilderte die Industriegebiete der Vergangenheit in den schwärzesten Farben: »Rußende Schornsteine, vergiftete Luft, verwüstete Natur. Aber nicht nur die Fabriken verpesteten die Umwelt, sondern auch unzählige schmutzige, lärmende Baustellen. Die Natur wurde zugepflastert. Ungezügelte Bauwut hatte die Menschheit ergriffen. Schon im Mittelalter fielen ganze Waldlandschaften dem Brennen von Tonziegeln und Kalkmörtel zum Opfer. Das verschlimmerte sich noch mit der Entdeckung des Betons. Talsperren, Bunker und Brücken verwüsteten die Landschaft. Tunnel bohrten sich durch die Berge. Autobahnen umspannten die Erde, erstickten die fruchtbaren Böden Mit dem Beton, der damals verbaut wurde, könnte man eine fünf Meter dicke Säule bis zum Mond bauen.«
»Ihr scherzt. So eine mächtige Last hätte die Erde gar nicht tragen können.«
»Doch, das hat sie«, belehrte ihn Mater Metaxa, »denn Beton besteht aus Sand, Zement und Wasser, lauter Stoffe, die es auf der Erde gibt. Unser Planet wäre durch die Umwandlung in Beton nicht schwerer geworden, aber wir hätten ihn beinahe zubetoniert.«
»Dann sollten wir das Atomzeitalter eigentlich das Betonzeitalter nennen«, meinte Baal.
»Das wäre gar nicht so verkehrt«, gab Mater Metaxa
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