Magna Mater - Roman
abgeschlossene Welt für sich: keimfrei und heilungsgerecht temperiert. In ihnen liegen die Patienten in künstlichem Tiefschlaf. Ihre Gondeln hängen dicht an dicht wie die Beeren einer Weintraube in dem Turm. In tiefer Stille schöpfen die Erkrankten hier neue Lebenskraft. Niemand stört den Genesungsschlaf. Keiner betritt ihr Zimmer, um sie zu untersuchen oder zu behandeln. Auf Abruf gleiten die Gondeln in die für die Behandlung erforderlichen Räume, wo die Patienten vom Krankenhauspersonal betreut und versorgt werden.
Nach dem »Schlüpfen« – so nennen sie auf Karakara die Beendigung des Heilschlafes – beziehen die Genesenden riedgedeckte Rundhütten in einem Pinienwäldchen. Dort brennen am Abend Lagerfeuer. Gitarren erklingen. Es wird gesungen und getanzt, vor allem getanzt. Auch das gehört zur Genesung. Mit dem Schlüpfen ist der Heilungsprozess nicht beendet.
»Wir wollen nicht nur wissen, was in unseren Körpern passiert, wenn wir krank werden, sondern vor allem, warum uns dieses Leiden befallen hat«, erklärte mir Asra. »Wir fahnden nach den Wurzeln.«
»Werden alle, die hierherkommen, geheilt?«, fragte ein Blühender.
»Fast alle«, antwortete die behandelnde Schwester.
»Gibt es auch … Tote?«
»Noch nie haben wir einen Blühenden durch Krankheit verloren. Dafür seid ihr, der Vernunft sei es gedankt, zu gesund, aber vor Unfällen ist keiner gefeit. Vor ein paar Tagen wurde uns ein Kind mit einem Schlangenbiss gebracht. Ihm war nicht mehr zu helfen.«
»Und wie ist es mit den Ordensfrauen?«
»Die sterben fast alle an der Krankheit, die keiner zu heilen vermag: am Alter.«
Obwohl noch geschwächt vom Fieber, unternahm ich schon bald kurze Spaziergänge am Strand, wobei mich die Prinzipalin begleitete. Asra war eine zarte Frau mit schmalen Händen. Unbefangen und selbstbewusst sprach sie von ihrer Arbeit, vermischte Wissenswertes mit Witz und ungewöhnlichen Gedanken. Ich hätte ihr stundenlang zuhören können.
Als sie mich in ihr Haus einlud und wir uns zu Tisch legten, sprach sie über das Essen: »Sage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist. Alles hängt davon ab, was wir essen. Schau dir nur die Abbildungen der Menschen an, die vor uns die Erde bevölkerten. Nimm zum Beispiel die alten Briten. Kein anderes Volk war so stolz auf seinen Rindfleischkonsum. Ärmere Länder hielten sich Kühe der Milch wegen. Die Briten verzehrten mehr Beaf als alle anderen, und so sahen sie auch aus. Obwohl ihr Wappentier der Löwe war, hatten die englischen Königinnen von je her mehr Ähnlichkeit mit Kühen als mit Löwinnen. Und sie waren noch stolz auf ihre Rinderseelen. Die Eliteuniversität der Insel nannte sich Oxford, die Leibgarde der Königin Beafeater.«
Asra zeigte auf ein Bild, das wie eine Mahnung in der Essecke hing. Es zeigte einen dicken Mann mit einem Steinkrug in der Faust: »Jahrhundertelang haben Mönche und Pfaffen Karpfen gezüchtet und verzehrt. Hier hängt das Resultat: Halslose Fischköpfe mit hervorquellenden Karpfenaugen.«
Ich musste laut lachen, doch sie fuhr unbeirrt fort: »Noch nie zuvor wurden so viele Hühner verspeist wie gegen Ende der christlichen Zeitrechnung. Dass die Menschen am Ende nicht so dachten wie die Käfighennen, verdankten sie nur der Tatsache, dass Hühner nicht denken, und das taten auch immer mehr Zeitgenossen. Das überließen sie den Computern.«
Sie träufelte Zitronensaft auf die Avocados und meinte: »Es gab fast nichts, was diese Vielfraße sich nicht einverleibten, vom Kalbshirn bis zur Haifischflosse. Frösche verendeten mit abgerissenen Beinen, Singvögel in Fangnetzen und Hummer in kochendem Wasser. Essen war für sie ein fleischliches Vergnügen, so sinnlich geil wie ihre Sexsucht. Sie schwelgten in wahren Gaumenorgasmen. Und dabei saßen sie wie die Affen auf ihren dicken Ärschen. Sitzen scheint überhaupt ihre Lieblingsbeschäftigung gewesen zu sein. Bei Tisch, im Büro, auf Reisen, sie saßen immer und überall. Diese unnatürliche Körperhaltung ist ein unverwechselbares Kennzeichen der christlichen Menschheit. Die Griechen und Römer lagen beim Essen, auch die Inder und Orientalen. Außer den Affen sitzt kein Tier, Hund und Katze tun es bisweilen, weil sie schon so lange mit den Menschen unter einem Dach leben. Aber Mäuse und Elefanten tun es nie.«
Beim Schälen eines Apfels sagte sie: »Äpfel, Birnen, Kirschen und Pflaumen gehören botanisch zur Familie der Rosengewächse. Und Rosen liebe ich in jeglicher
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