Magna Mater - Roman
verglich den Orden mit der Inquisition, ballte seine Fäuste und stieß wütende Drohungen aus.
Für uns Ordensfrauen war das der sichtbare Beweis für die gewalttätige Kraft des Testosterons, das in ihm aufkeimte. Als er sein Recht auf Freiheit beschwor, unterbrach ihn die Prinzipalin:
»Freiheit sei der Zweck des Zwanges.
Wie man eine Rose bindet,
dass sie, statt im Staub zu kriechen,
froh sich in die Lüfte windet.«
Inzwischen war der Tag angebrochen. Die Strahlen der aufgehenden Sonne fielen waagrecht in den Saal. Sie verliehen den blassen Leibern der Angeklagten rosigen Glanz. Hand in Hand ließen sie sich widerstandslos abführen, wie Schafe auf dem Weg zur Schlachtbank. Wie scheußlich war das alles! Die Gesichter der Ordensfrauen erschienen in dem ersten Licht des Tages noch faltiger, als sie von Natur aus waren. Mater Metaxa war die Erste, die das eisige Schweigen brach: » Ich hoffe doch sehr, ihr habt nicht mehr von diesen fauligen Früchten auf Gemora.«
»Das wäre gewiss fatal«, sagte die Prinzipalin. »Aber ich versichere euch, es handelt sich um einen Einzelfall. Ich kenne meine Schutzbefohlenen und weiß, wie sie denken.«
»Verlass dich nicht auf Kennen und Wissen. Das Gefühl ist ein besserer Führer als der Verstand. Unsere Überlegenheit stammt eher aus dem Blut als aus dem Hirn. Ohne sie erlangst du keine Macht über deine Schutzbefohlenen. Das Ansehen des Ordens beruht auf der Ehrfurcht, die man uns entgegenbringt.«
»Soll das Kritik an meiner Führung sein?«
»Wie anders sollen wir es uns erklären, dass es hier auf Gemora Bücher lesende Liebespaare gibt?
»Jede gemeinschaftliche Unternehmung bedarf der straffen Führung. Wenn ein Haus errichtet werden soll, so kann der Plan nicht den Launen der Maurer überlassen werden. Beim Bau einer neuen Straße muss jemand bestimmen, wohin sie führt. Es genügt nicht, die Produktion des Korallin zu überwachen. Wichtig wie der Werkstoff ist die Kunst der Menschenführung.«
Die Prinzipalin wollte den Vorwurf entkräften. Bevor es ihr gelang, ein Wort hervorzubringen, stellte Mater Metaxa die Frage, die uns alle interessierte:
»Wie willst du dieser Pest Einhalt gebieten? Wie wir alle wissen, ist der Reifeprozess nicht umkehrbar. Es gibt nur einen Weg, um den Mann wieder unter die Geschlechtslosen einzureihen: die Kastration.«
»Und die Frau?«, fragte ich. »Was geschieht mit ihr?«
»Die Frau entgeht der schmerzhaften Prozedur. Dafür hat sie ein Leben lang ihre euterhaft prallen Brüste für alle sichtbar zur Schau zu tragen, ein Schandmal unter Blühenden.«
Mater Metaxa fragte: »Was aber geschieht mit einem Blühenden, der sich mit Hilfe verbotener Schriften das Lesen angeeignet hat? Auch dieser geistige Reifeprozess ist nicht umkehrbar. Solch einen Fall hat es meines Wissens noch nie gegeben.«
»Blenden«, schlug eine junge Ordensfrau vor. Sie war nur wenig älter als ich.
»Was sagst du da?«, fragte die Prinzipalin, die glaubte, nicht richtig verstanden zu haben.
»Die Augen ausstechen.«
»Eine andere Möglichkeit wird es wohl kaum geben«, schloss sich ihr eine Ordensfrau an. Und ich war damals mit ihr einer Meinung.
»Leib- und Todesstrafen gehören der christlichen Vergangenheit an«, belehrte uns die Prinzipalin.
»Wie aber willst du einen, der lesen kann, am Lesen hindern?«, fragte ich. »Wenn wir zulassen, dass einige die verbotene Kunst beherrschen, wie willst du dann verhindern, dass es bald alle können?«
»Eine Entscheidung von solcher Tragweite obliegt uns nicht«, sagte die Prinzipalin. »Die Magna Mater soll entscheiden, was mit den beiden zu geschehen hat.«
Dazu kam es jedoch nicht, denn anderentags waren die Verurteilten geflohen. Der Wind spielte mit der offenen Tür ihres Kerkers.
»Ja, war denn die Tür nicht verschlossen?«, rief ich ungläubig.
»Nein, wozu?«, bekam ich zur Antwort. »Wohin kann man auf einer Insel schon fliehen?«
Auf der Heimfahrt meinte Mater Metaxa: »Das hat sie geschickt angestellt.«
»Wer hat was geschickt angestellt?«, wollte ich wissen.
»Die Prinzipalin. Sie hat ihnen mit der Blendung gedroht und die Tür offen gelassen, wohlwissend, dass sie die Gelegenheit zur Flucht nutzen würden.«
»Sie werden nicht weit kommen«, gab ich zu bedenken. »Niemand vermag sich dauerhaft auf einer Insel zu verstecken.«
»Der Ozean ist grenzenlos weit.«
»Du meinst, sie sind mit einem Boot auf und davon?«
»Ihnen bleibt gar keine andere Wahl.«
»Das werden sie
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