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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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nicht überleben.«
    »Nein, ganz gewiss nicht, aber es war richtig, die Hinrichtung dem Meer zu überlassen. Sind wir nicht alle der Naturgewalt ausgeliefert?«
    »Was aber«, fragte ich, »wäre geschehen, wenn sie nicht geflohen wären, hätten wir ihnen dann die Augen …«
    »Unsinn«, unterbrach Mater Metaxa meine Frage: »Diese Möglichkeit ist zu abwegig, um sie in Betracht zu ziehen. Selbst wenn einem völlig Verzweifelten nichts mehr an seinem eigenen Augenlicht läge, so würde er niemals zulassen, dass man der Geliebten die Augen aussticht. Es gibt Strafen, die zu schrecklich sind, um je vollzogen zu werden. Ihre Androhung genügt, sofern man den Verurteilten eine Fluchttür offen lässt.«
    Ich wollte wissen: »Warum dürfen die Blühenden weder lesen noch schreiben?«
    »Weil sie dann aufhören würden zu blühen. Die dunkelhäutigen Bewohner Afrikas haben Sprachen entwickelt, die an Klangfarbe und Ausdrucksreichtum nicht zu überbieten sind, aber sie haben niemals ihre lebendigen Stimmen und Gedanken in Buchstaben eingefroren. Ein Volk ohne Schrift ist ein Stamm von Naturkindern. Und das sind auch unsere Blühenden: Naturkinder. Lesen ist eine unnatürliche Kopfakrobatik. Es gibt keine kompliziertere Leistung unserer Gehirnzellen als die abstrahierende Übersetzung von Schriftzeichen in Bilder und Gedanken. Kein Tier kann das und kein Kleinkind.«
    Sie fuhr sich mit der Hand über ihre in Falten gebetteten kurzsichtigen Augen, schwieg ein paar Atemzüge und sagte:
    »Während des Atomzeitalters gab es Wissenschaftler, die kannten jeden Knochen und alle Chromosomen eines Kamels. Aber falls ihnen jemals ein Kamel begegnet wäre, so hätten sie es nicht erkannt. Zu viel Detailwissen macht dumm. Man weiß dann immer mehr über immer weniger, bis man am Ende alles weiß über nichts. Die Naturwissenschaftler der Betonzeit haben die Natur zerdacht.«
    Ich verstand nicht, wie sie das meinte, und muss sie wohl so fragend angeschaut haben, dass sie sich genötigt sah, es mir zu erklären:
    »Der Abstand zwischen der Erde und dem Andromedanebel beträgt viele Lichtjahre. Er entfernt sich von uns mit einer Geschwindigkeit von über hunderttausend Kilometern pro Sekunde.
    Die kleinste Zeiteinheit ist das Chronon, das aus der Zerfallszeit physikalischer Elementarteilchen abgeleitet wird. Ein Chronon ist der Zehn hoch dreiundzwanzigste Teil einer Sekunde. Wie nennt man eine Zahl mit dreiundzwanzig Nullen?«
    Ich zuckte ratlos mit den Schultern, und sie fuhr unbeirrt fort: »Unsere Blühenden lernen – die Erde ist undenkbar alt, der Andromedanebel ist undenkbar fern, das Chronon ist undenkbar klein. Und sie haben recht. Denn diese Berechnungen waren schon damals für die meisten Menschen so unbegreiflich wie der Gott, den sie verehrten. Manche Dinge muss man verstehen, andere nur auf sich einwirken lassen.«
    »Wieso weißt du bloß so viel?«, verwunderte ich mich.
    »Weil ich so alt wie ein Baum bin. Alt zu werden, ist unser Vorrecht und unsere Tragödie, denn alles, was lange währt, altert. Das Schöne lebt nur eine kurze Zeitspanne. Wenn Gott ewig war, dann war er hässlich.«
    Die Wellen schlugen gegen unser Boot. In der Nacht hatte ein Sturm getobt. Wir schauten hinaus und dachten beide dasselbe. Ich sagte: »Sie haben ihr Leben und ihre Würde verloren.«
    »Nein, nicht ihre Würde«, verbesserte sie mich. »Auch Tiere verfügen über Würde. Die beiden haben schamlos ihr Menschsein weggeworfen. Allein die Scham trennt uns von den Gottesanbetern und deren grausamen Ritualen wie der Ehe, das feierliche Versprechen, eine bestimmte Person, und nur die, zu lieben und mit ihr das ganze Leben zu verbringen, ja sogar neben ihr bestattet zu werden, bloß weil sie hin und wieder Sex miteinander hatten. Ein zwanghafter Kult von Primitiven.«
    Ich kannte das ehemals weit verbreitete Eheritual aus den Romanen. In der Bücherei lagert hinter ellendicken Mauern das Gedächtnis des Ordens. Tausende von Büchern, jedes einzelne Blatt eingegossen in transparentes Korallin, sorgfältig konserviert wie die Mumien der alten Ägypter. Ein unersetzlicher Schatz, den wir nicht aus musealer Liebe zur Vergangenheit aufbewahren, sondern als Mahnung gegen das Vergessen. Bücher als Ruinen. Antike Säulen der alten Unvernunftswelt.
    »Unsere Zeitmaschine«, sagte Mater Nabilia, die Herrin der Bücherei, als sie mich durch die langen Reihen der Regale führte.
    »Wieso Zeitmaschine?«, habe ich sie gefragt, und sie hat

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