Magna Mater - Roman
Gestalt. Keiner käme auf die Idee, eine Rose zu kochen, und eigentlich sollte man das keiner reifen Frucht antun. Denn der Genuss von Rohkost dient der Heilung, Gekochtes nur der Sättigung. Am gesündesten ist das eingeweichte volle Korn. Ich esse es täglich.«
Sie wusste Dinge, von denen ich nie zuvor gehört hatte, die ich mir aber merkte. War ihr blühendes Aussehen nicht der augenscheinliche Beweis für die Richtigkeit ihrer Ratschläge?
»Der Verzehr von Nachtschattengewächsen hat Nebenwirkungen, die man kennen sollte. Kartoffeln fördern das verstandesmäßige Denken auf Kosten des intuitiven Empfindens, womit sie für uns Frauen mit beschnittenen Köpfen völlig ungesund sind. Honig ist gut. Er belebt Leib und Seele.
Nichts ist so wohltuend wie das Beisammensein mit lebensbejahenden Menschen. Geht zu den Gesunden und steckt euch alle an!«
Sie füllte einen Becher mit Milch und sagte:
»Für bestimmte Krankheiten gibt es keine bessere Medizin als Milch, weshalb wir auf Karakara Rinder halten.«
Ich wollte sie sehen, und Asra zeigte sie mir.
Es ist eine Wohltat, den grasenden Tieren zuzuschauen, wie sie mit tief gesenkten Köpfen Schritt für Schritt die Wiesen abweiden. Alles an ihnen ist ruhig, selbst der Schwanzschlag, mit dem sie die Fliegen vertreiben. Sanftmut leuchtet ihnen aus den Augen. Und wie andachtsvoll sie kauen.
Die Ställe lagen in einer Talmulde hinter einer hohen Tamariskenhecke, die den Seewind abhielt. Die Kühe konnten sich dort frei bewegen. An diesem Nachmittag lagen sie wiederkäuend auf der Weide. Asra stellte fest, dass ein Tier fehlte.
»Normalerweise suchen sie die Ställe nur bei Regen auf. Irgendetwas stimmt da nicht.« Es klang besorgt. Sie begann zu laufen, und ich rannte hinter ihr her.
Bevor wir den Stall erreichten, hörten wir das Keuchen der Kuh. Sie stand wie erstarrt in dem knöcheltiefen Stroh. Ihre Flanken bebten. Schaum rann ihr aus dem geöffneten Maul. Die Augen voller Angst.
»Sie ist krank.«
»Nein«, sagte Asra. »Sie bekommt ein Kalb.« Sie strich dem Tier über den prallen Leib und sprach zu ihm wie zu einem Menschen. Gemeinsam versuchten wir die Kuh zu beruhigen. Zum Dank leckte sie uns die Hände. Wie rau ihre Zunge war! Und dann ging alles sehr schnell. Ein Schwall Wasser ergoss sich aus ihrem Leib. Etwas Glitschiges aus Haut, Fell und Schleim quoll hervor und fiel zu Boden. Vor uns lag ein Kalb, nass und blutverklebt. Ich wollte ihm helfen, aber Asra hielt mich zurück: »Überlass das der Mutter.« Die hatte sich bereits über ihr Kind gebeugt, um es trocken zu lecken. Ehe sie damit fertig war, stand das Kleine auf seinen viel zu langen, dünnen Stelzenbeinchen, noch wacklig, aber schon laufbereit, um ein paar erste Stolperschritte zu wagen.
Es war das erste Mal, dass ich eine Geburt miterleben durfte. Sie hat mich nachhaltig beeindruckt. Nach allem, was ich bisher darüber gehört hatte, glaubte ich, Gebären sei eine ekelerregende, scheußliche Tortur, eine menschenunwürdige Barbarei. Was es ja wohl auch ist, aber dennoch: welch ein Wunder!
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wohl wäre, ein Kind zu haben. Ein wundervolles Gedankenspiel.
Das Kind, das ich nicht habe und nie haben werde, heißt Isabel. Warum gerade Isabel? Weil das ein schöner Name ist. Ich will, dass es große braune Augen hat. Es ist klein, mit niedlichen Kinderhänden, die sich mir entgegenstrecken. Alle sagen, wie schön mein Kind ist. Und ich bin so stolz, als hätte ich es selbst geboren. Eine Angelegenheit, die ich mir in meiner kühnsten Fantasie nicht vorzustellen vermag. Der Gedanke, dickbäuchig wie ein Igelfisch zu werden, erfüllt mich mit Schaudern. Ich möchte auch nicht, dass mein Kind an meinen Brüsten herumschmatzt, wie das die Säuglinge im Menschenzoo tun. Das Kind, das ich nicht habe und nie haben werde, ist vier Jahre alt. Es kann sprechen und laufen und benötigt keine Windeln mehr. Es bleibt für immer ein Kind, mein Kind, wenn auch nur in Gedanken.
14. KAPITEL
Z wischen Dämmerung und Dunkelheit, wenn die Blüten lockender duften und die ersten Fledermäuse einflattern, erwachen die Trommeln. Seit Tagen beunruhigen sie die Menschen, verheißen höchste Wonne, letzte Vollendung, Ekstase, Totentanz.
Auch für Baal, den Bootsmann, der mich auf vielen Reisen begleitet hat, war die Lebensuhr abgelaufen. Nach unserer letzten Fahrt hat er mir schweigend die Hand gereicht. Wie jung und faltenlos sie noch war. Und doch lag der Schatten des Todes
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