Magna Mater - Roman
gleichen Zeit in das Licht der Welt gehoben werden, und an die Ungeborenen, die in jener Vollmondnacht gezeugt worden sind. Gewiss ist das so, weil wir den Bezug zu Zeugung und Geburt verloren haben, während keiner von uns dem Tod entkommt.
Mit der abnehmenden Phase des Vollmondes verstummen die Trommeln auf den Inseln, die niemand betreten darf, niemand außer den Liebenden. Nur die Skarabäen wissen, was da wirklich vor sich geht. Sie entnehmen den im Liebesrausch verstorbenen Frauen die befruchteten Eier, um neues Leben in der Brutstation heranreifen zu lassen.
Die Toten finden auf der Liebesinsel ihre letzte Ruhe. Und es heißt, dass nirgendwo so prächtige Blumen gedeihen wie in dem Tal, in dem die Blühenden begraben werden. Ihr Duft lockt so viele Falter herbei, dass man glaubt, bei Windstille ihren Flügelschlag zu vernehmen. Ihr fein beschwingtes Schweben scheint alle irdische Schwerkraft aufzuheben. Die spinnwebenhafte Leichtigkeit verleiht dem Ort überirdischen Zauber und dem Tal den Namen: Schmetterlingstal.
Besteht nicht die wichtigste Aufgabe eines Schmetterlings darin, einen Geschlechtspartner zu finden? Erst dann kann er sterben.
15. KAPITEL
I ch hatte zwei Tage auf Kurakabana verbracht, einem Atoll am äußersten Rand unserer Inselwelt, um dort einen Lehrgang zu leiten. Als ich am Morgen meiner Abreise die Stufen zum Hafen hinabstieg, war der Himmel schwefelgelb, was ich für kein gutes Vorzeichen hielt. Da Stürme um diese frühe Jahreszeit sehr selten sind, schob ich alle Bedenken beiseite, machte mein Boot für die Heimfahrt klar und stieß in See, die so ruhig dalag wie ein großer Teich. Nachdenklich hätte mich stimmen sollen, dass außer mir kein Schiff ausgelaufen war.
Den größeren Teil der Heimreise hatte ich bereits zurückgelegt, als sich im Westen Wolken zusammenballten. Es wurde so finster, als wenn die Nacht hereinbräche. Wie ein Faustschlag traf die erste Bö das Boot. Am liebsten hätte ich eine nahe gelegene Insel angesteuert, aber das Meer hatte sich inzwischen so wild erhoben, dass ich befürchten musste, an dem felsigen Steilufer zu zerschellen. Die Wellen brachen sich mit Schaumkronen, und der Sturm tobte. Wie ein Stück Holz wurde das Schiff hin und her geschleudert. Warum war ich bloß allein losgefahren und hatte mir nicht einen Bootsführer genommen, wie das die anderen Ordensfrauen taten, wenn sie längere Fahrten zu unternehmen hatten?
So rasch, wie das Unwetter ausgebrochen war, so rasch verebbte es auch wieder. Das Meer aber blieb weiterhin wild bewegt. Um nicht zu kentern, bemühte ich mich, die Wellen so steil wie möglich zu schneiden, was meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Im Windschatten einer Insel nutzte ich die Gelegenheit, das eingedrungene Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Dabei bemerkte ich achtern voraus einen dunklen Gegenstand. Er ragte aus dem Wasser wie der Rücken eines großen Fisches. Als ich näher kam, sah ich, dass es ein Baumstamm war. Aber bewegte sich da nicht etwas? Und dann erkannte ich den Menschen. Mit nackten Armen umklammerte er das Treibholz und schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Es kostete mich große Anstrengung, ihn in mein Boot zu ziehen. Seine Finger hatten sich so fest in dem Treibholz verkrallt, dass ich ihn nur mit Hilfe einer Trosse frei bekam.
Mehr tot als lebendig hing er schließlich über der Ruderbank. Das Wasser rann ihm aus dem ledernen Lendenschurz. Keuchender Atem hob und senkte seinen nackten Brustkorb. Fragen nahm er nicht zur Kenntnis. Seine Zähne schlugen aufeinander. Er fror. Ich wickelte ihn in eine Wolldecke, und er versank in tiefen Schlaf.
Die Wellen schlugen immer noch hoch und erforderten meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Ich vermochte mich nur mit Mühe auf meine Arbeit zu konzentrieren. Wilde Gedanken schossen mir durch den Kopf.
Wer war dieser Mensch? Woher kam er? Er war kein Blühender, sondern ein Mann mit Bart und behaarter Brust. Eine menschliche Abart, der ich bisher nur im Menschenzoo begegnet war. Und auf Gemora als Gesetzesbrecher. Vom ersten Augenblick unserer Begegnung an übte der Fremde magnetartige Kräfte auf mich aus. Er zog mich an und stieß mich zugleich ab.
Ein Mann – wie konnte sein, was nicht sein durfte? War er einer von denen, die es wagten, die Purifikation zu umgehen, ein Ketzer gegen die reine Lehre der Vernunft? Oder stammte der Mann aus einer fernen Inselwelt, von der wir nichts wussten? Gewiss waren wir nicht die Einzigen, die die südliche
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