Magna Mater - Roman
Erdhalbkugel bewohnten. Vielleicht gab es irgendwo da draußen in der Weite des Ozeans noch primitive Wilde, Tierfleischesser oder vielleicht sogar Menschenfresser. Wir hatten uns nie die Mühe gemacht, das nachzuprüfen, denn im Gegensatz zu unseren Vorfahren, die nichts lieber taten, als um die Welt zu reisen, gilt für uns: Fortfahren und Fortschritt sind zwei Seiten des gleichen Übels. Gefahrvoll ist die Fremde. Kein Atoll, das nicht radioaktiv verseucht sein kann. Kein Boden ohne Landminen. Kein Neuland ohne unbekannte Gifte.
Nicht in die Fremde reisen, um Neues in Augenschein zu nehmen, sondern Bestehendes gründlich erkunden. Darauf basiert unsere Kultur. Nicht nach immer Neuem forschen, sondern das vorhandene Wissen weiter vertiefen. Erhalten ist wichtiger als Entdecken und Erfinden.
So wie wir nicht in fremde Lebenskreise eindringen, so erwarten wir auch, dass sich andere von uns fernhalten. Jeder Fremdkörper, der versucht, von außen in einen lebenden Organismus einzudringen, ist eine Bedrohung für die Gesundheit, ist Krankheitskeim und Verletzung. Alles Fremde ist gefährlich!
Anstatt den Mann, wie es sich gehört hätte, dem Orden auszuliefern, nahm ich ihn mit zu mir, in mein Haus, das ich seit dem Tod von Mater Metula allein bewohnte. Der Mann aus dem Meer bedurfte so sehr meiner Hilfe, dass ich gar nicht anders konnte als ihm zu helfen.
Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte, ihn vom Strand ins Haus zu schaffen, aber als ich ihn endlich über die Türschwelle gezogen hatte, befand auch ich mich am Ende meiner Kräfte. Ich richtete ihm ein Bett her und eilte in die Küche, um heißen Tee zu bereiten. Als ich zurückkehrte, steckte er unter der Bettdecke. Nur seine Füße schauten hervor. Meine Güte, was für große Füße er hatte!
Ich wollte ihm Tee einflößen. Es gelang mir nicht. Mit zusammengepressten Lippen bebte er am ganzen Körper. Er fror. Mit geöffneten Augen, aber ohne Bewusstsein lag er da wie ein Toter.
Ich dachte an Nandu, meinen kleinen Seeadler. Als sie ihn brachten, war er so hilflos wie dieser Mann hier. »Zu früh aus dem Nest gefallen«, sagte die Ordensfrau, die ihn gefunden hatte. »Für einen Greifvogel ist dies das Todesurteil.« Ich war selber noch ein Kind und wollte nicht einsehen, dass diesem Vogelkind nicht mehr zu helfen war. Man warnte mich: »Ein Seeadler lässt sich nicht zähmen. Nimm dich in Acht! Sein Schnabel ist so scharf wie ein Hackmesser.« Aber ich habe ihn versorgt und aufgezogen mit Fischbrei und Muschelfleisch, vor allem aber mit viel Liebe und Körperwärme.
Daran musste ich denken, als ich neben dem Bett des Mannes kauerte. Ich beugte mich über ihn, um ihn aus der Nähe in Augenschein zu nehmen. Das Barthaar in seinem Gesicht verlieh ihm etwas Tierhaftes. Tiere habe ich immer geliebt, mehr als Menschen. Ich bewunderte die breite Stirn, die hervortretenden Backenknochen, die buschigen Augenbrauen, den Haarwuchs über kantigem Kinn.
Er sah nicht so aus, als gehörte er zu jener gefährlichen Art, deren hormongesteuerte Brutalität den ganzen Planeten bedroht hatte. Er machte auch nicht den Eindruck auf mich, als wäre er ein primitiver Wilder, ein Fleischfresser von einem fernen Eiland.
Welche Sprache er wohl beherrschte? Bisher hatte er noch kein Wort gesprochen. Stumm wie ein Tier lag er da, ein sterbendes Tier, das dringend Hilfe brauchte. Ich berührte ihn: Hand, Stirn, Schulter. Kalt wie ein Fisch. Wie konnte es anders sein. Lammfelle, die man über einen Frierenden wirft, erzeugen keine Wärme, sondern bewahren nur die Wärme des Leibes. Was aber, wenn der kalt wie Eis ist?
Heißen Tee verweigerte er. Mater Metula hatte mich nach dem Schwimmen im Meer immer mit rauen Tüchern warm gerubbelt. Ich schob die Felle beiseite und legte meine Hände auf seinen nackten Leib. Ich schauderte. Mater Metula hatte sich auf dem Totenbett so kalt angefühlt. Wie hatte sie gesagt, wenn sie gewärmt werden wollte: »Man kann Schiffbrüchige in warmes Wasser legen, sie mit Branntwein abreiben und mit heißen Getränken vollpumpen, und dennoch werden nur wenige überleben. Weißt du, wie das die Seeleute früher gemacht haben? Wenn sie einen Schiffbrüchigen aus dem Meer fischten, haben sie ihn einem anderen Menschen ins warme Bett gelegt. Das ist das Geheimnis der brütenden Vögel, die mit der Wärme ihrer Körper leblosen Eiern Leben einflößen.« Dabei hatte sie sich an mich geschmiegt, als wollte sie mir das Leben schenken.
Einen Atemzug lang
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