Magna Mater - Roman
ihm über Gesicht und Schultern. Er triefte vor Nässe wie aus dem Wasser gezogen.
Bei Licht sah ich, dass es eine Frau war, eine Blühende mit jungem Gesicht und langem Haar, aber mit den Brüsten einer reifen Frau.
Nachdem sie mit großer Gier einen Krug voll Wasser ausgetrunken hatte, versank sie in tiefen Schlaf, aus dem sie erst am anderen Morgen wieder erwachte. Es dauerte auch dann noch lange, bis sie die Lippen bewegte, um unverständliche Laute von sich zu geben. Sie lag da wie eine Tote, die Augen geöffnet, die Finger zu Fäusten verkrallt. Meine Fragen nahm sie nicht zur Kenntnis. Sie musste schlimme Dinge erlebt haben.
Ihr Gesicht erschien mir nicht fremd, aber ich konnte mich nicht erinnern, ihr jemals begegnet zu sein. Offensichtlich kam sie von weit her. An meinem Steg lag ein fremdes Boot.
Als sie endlich ihr Schweigen brach, waren es wirre, zusammenhanglose Sätze, mehr geflüstert als gesprochen, unverständlich zunächst, Bruchstücke, die sich nur mühsam zusammenfügen ließen.
Sie hieß Attea. Ich will versuchen, ihre Worte so wiederzugeben, wie ich sie verstanden und in meiner Erinnerung bewahrt habe:
»Am Tag vor Neumond ließ mich der Orden wissen, meine Lebenszeit sei abgelaufen. Ich war gerade achtunddreißig geworden und verspürte keinesfalls den Wunsch, auf die zwei Jahre zu verzichten, die mir noch zustanden. Gewiss empfanden das auch die anderen Todgeweihten so, aber sie fügten sich der Pflicht. Sind nicht auch unsere Vorfahren, ohne zu klagen, den Weg der letzten Vollendung gegangen?
Ich vermochte das nicht hinzunehmen. Sprüche wie ›Eine Feier wird nicht schöner, wenn sie länger währt‹ fanden in meinen Ohren kein Gehör. Das Grauen vor dem Tod war stärker als alle lustvollen Verheißungen. Das Massensterben während der großen Flut hatte sich mir tief und unauslöschlich eingeprägt.
Wie waren achtundachtzig Frauen, oder richtiger: achtundachtzig Blühende weiblichen Geschlechts, als wir auf dem Eiland der Verwandlung an Land gingen, wo uns in feierlichem Ritual die Libido eingepflanzt wurde. Berauschende Säfte und Räucherkerzen, Musik und Kokain verstärkten die Wirkung des Sexualhormons. Es war der Anbeginn einer unheimlichen Metamorphose. Raupen muss so zumute sein, wenn sie sich in Schmetterlinge verwandeln. Wir aber waren Schmetterlinge, die zu Raupen werden sollten.
Knabenhafte Schlankheit wich weichen Rundungen. Knochige Konturen verformten sich zu hormongeschwängertem Fleisch. Brüste begannen zu schwellen, Schamhaare zu sprießen. Mit der Wehmut, die das Wissen um den Abschied verzaubert, leuchtete den Frauen noch lange das Glück der Blühenden aus den Augen.
Ich weiß nicht, wie lange der Reifeprozess gedauert hat. Rückblickend kommt es mir so vor, als wäre ich während dieser Phase aus der Zeit geglitten. Wie Pflanzen dämmerten wir der Reife entgegen. Den größten Teil des Tages verbrachte ich in traumlosem Tiefschlaf. Erst die Monatsblutungen beendeten unsere Metamorphose.
Bis dahin nackt, mussten wir nun wallende Gewänder tragen, die uns bis auf die Knöchel fielen. Blasse Haut und Entblößung seien wichtige Bestandteile der Leben spendenden Vereinigung, erklärten die Ordensfrauen, die uns betreuten. Ich fand das gut, denn der Anblick unserer prallen Leiber erschien mir ekelerregend. Da war keine Spur von Wollust oder sinnlicher Begierde.
Jedenfalls nicht in mir. Bei Musik und tänzerischer Bewegung erlernten wir die vollendete Hingabe an das andere Geschlecht. Zur Vorbereitung auf die zu erwartenden Orgasmen übten wir uns im Spiel der feuchten Finger am eigenen Fleisch.
Als wir die Barken bestiegen, lag der Mondschein auf dem Meer wie eine goldene Straße. Auf ihr ruderten wir unserem Schicksal entgegen. Dabei sangen wir, wie das kleine Kinder im Dunkeln tun, um sich gegenseitig Mut zu machen. In der Ferne ragten die weißen Kalksteinfelsen von Arkadia in den nächtlichen Himmel. Trommelschlag wehte uns entgegen. Durch einen Mangrovenwald glitten wir in den engen Hafen der Insel. Am Ufer erwarteten uns Wesen wie aus einer anderen Welt. Sie bewegten sich zum Takt der Panflöten, brennende Fackeln in den Fäusten und grauenhafte Fratzen über entblößten Oberkörpern. Alle trugen Masken, denn Skarabäen haben wie die Magna Mater kein Gesicht.
Das Tabu dieses Ortes, an dem unser aller Leben beginnt und endet, ist so übermächtig, dass kein Sterblicher Arkadia zu betreten wagt. Die Ordensfrauen, die uns auf unserer letzten Reise
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