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Magna Mater - Roman

Magna Mater - Roman

Titel: Magna Mater - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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Götter nicht, und er begehre nimmer zu schauen, was sie gnädig verdecken mit Nacht und Grauen.«
    »Haben wir die Götter nicht abgeschafft?«
    »Der Glaube an Götter wurde abgeschafft.«
    »Ist das nicht dasselbe?«
    »Nein, ganz und gar nicht.«
    »Das musst du mir erklären.«
    »Wenn es um den Glauben geht, dann gibt es keinen von Menschen erdachten Unsinn, der nicht herangezogen worden ist, um eine Scheinwelt daraus zu ersinnen. Und um diese albernen Erfindungen zur Wahrheit zu erheben, wurden sie in heiligen Schriften festgehalten, von denen es hieß, Gott persönlich habe sie seinen Propheten diktiert. Jeder, der an diese Narretei nicht glaubt, beleidigt den Allmächtigen und verdient Strafe, oft den Tod. Das heißt, Gott liquidiert alles, was sich ihm widersetzt. Ganz besonders die Vernunft, die Intelligenz und den kritischen Geist.« Er fuhr sich mit der rechten Hand über den stoppeligen Schädel und meinte: »Das haben wir, der Vernunft sei Dank, hinter uns.«
    Ich fragte: »Und was ist mit eurem Gott?«
    »Mit unserem Gott?«
    »Gott ist klein.«
    »Das hat mit Religion nichts zu tun. Wir glauben nicht, wir wissen, dass es eine Allmacht gibt. Sie ist so wirklich wie du und ich, unsichtbar und sichtbar, überall und in jedem von uns.«
    Er hatte sich erhoben und ging, die Hände hinter dem krummen Rücken gefaltet, zwischen seinen Büchern auf und ab wie ein Marabu. Wie alle Alten hatte er die Angewohnheit, sich zu wiederholen, und der kleine Gott war ganz offensichtlich sein Lieblingsthema.
    »Die Mikrobe ist das Maß aller Dinge. Winzig und doch unvorstellbar groß. Im Wattenmeer leben auf einer Fläche so groß wie mein Daumennagel eine Million Kieselalgen. Im Waldboden gibt es auf der gleichen Fläche mehr als eine Million Bakterienarten, Arten wohlverstanden, und nicht etwa Bakterien. Die absolute Zahl der Bakterien beträgt mehr als eine Billion pro Kilogramm. Das sind weit mehr als alle Sterne der Milchstraße.«
    Er hob die Arme und blickte zum Himmel.
    »Der Winzling verfügt über alle Eigenschaften der alten Götter. Er ist allmächtig, überall und unsterblich. Eine Bakterie spaltet sich in zwei Tochterzellen und lebt weiter. Manche von ihnen sind noch identisch mit denen, die seit Milliarden von Jahren die Erde bevölkern. Wir sind ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie schenken uns das Leben oder raffen uns dahin, als Pestbakterien oder Aidsviren, ganz wie es ihrer Allmacht gefällt. Aber die Mikroorganismen bevölkern und befallen uns nicht nur, sondern sind streng genommen identisch mit uns. Aus einer Million Milliarden Zellen besteht dieser Leib.«
    Er strich sich mit beiden Händen über den Bauch und sagte voller ehrfurchtsvoller Selbstbewunderung: »Ich bin ein Teil von ihm.«
    Ich mag die Muscheln. Sie liegen so leicht und glänzend in der Hand. Vom Leben geformt und vom Sand geglättet, in ihrer Innenwölbung so schimmernd wie zerflossene Perlen, sind sie stumm wie die Fische und sprechen dennoch zu uns wie die Jahresringe der Bäume. Legt man die schneckenartig gewundenen Gehäuse an das Ohr, so vernimmt man das Rauschen des Meeres.
    »Das ist nicht das Meer«, sagte Estragon, »das ist dein Blut, das da rauscht.«
    Ich war barfuß den Strand hinuntergelaufen. Er war mir gefolgt. Wir gingen eine Weile nebeneinander her.
    »Was bedrückt dich?«
    »Mein Auftrag. Die Magna Mater erwartet …«
    »Vergiss die Magna Mater.«
    »Wie kann ich sie vergessen? Ihr benehmt euch so selbstherrlich, als stündet ihr mit ihr auf einer Stufe«, entfuhr es mir. »Wer gibt euch das Recht, sich derart über den Orden zu erheben?«
    »Wir sind anders«, sagte Estragon.
    »Ich weiß, ihr seid Männer, und wir sind Frauen, aber sind wir nicht Glieder eines Ordens?«
    Er griff nach der Muschel, die ich in Händen hielt, und sagte: »Manche Stimmen muss man verstehen, andere nur auf sich einwirken lassen. Wir hören die Stimmen.«
    »Was für Stimmen?«
    »Nun, es sind keine Stimmen in der Art, in der wir miteinander sprechen. Es sind tönende Gedankenbilder, geheimnisvoll und doch offenkundig.«
    »Und was verraten euch die Stimmen?«
    »Das Geheimnis der Schöpfung.«
    »Der Schöpfung? Ich dachte, wir haben das fromme Märchen von dem Schöpfer des Himmels und der Erde längst abgelegt wie Kinderspielzeug.«
    Er überhörte meinen Einwand und sagte: »Unsere Welt ist mehr als die Summe ihrer Teile. Das Universum besteht nicht aus einer Vielzahl toter Objekte, sondern ist ein unteilbares

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