Magna Mater - Roman
glitt bis in der Mitte des Raumes und hielt an. Im Inneren der transparenten Gondel brannte schwaches Licht, zu schwach, um zu erkennen, was sie verbarg.
Ich öffnete die Haube und fuhr erschrocken zurück. Ich musste mir den Mund zuhalten, um nicht laut aufzuschreien. Vor mir lag eine Frau, eine nackte tote Frau mit vollen Brüsten und Schamhaar im Schoß. Die Augen geschlossen, als schliefe sie. Leichenblass und aufgedunsen. Der Anblick war abscheulich.
Hier also bewahrten sie die sterblichen Überreste der Verblühten auf. In der keimfreien, kühlen Atmosphäre der Korallineier ließ sich die Verwesung vermutlich für längere Zeit aufhalten. Angewidert schlug ich den Deckel der Gondel zu und dirigierte eine andere herbei. Und wieder fand ich eine Tote. Immer dasselbe. Dreizehnmal.
Als ich das vierzehnte Ei öffnete – schon von außen erschien es mir anders als die anderen: heller und wärmer –, fand ich ihn. Auch er lag da wie tot, nackt und mit geschlossenen Augen. Ich griff nach seiner Hand und spürte den Puls. Er lebte. Ich strich ihm über die fiebrige Stirn und fühlte mich mit ihm so verbunden wie seit seiner Geburt nicht mehr.
Ich warf mich über ihn.
Er war ein Teil von mir. Ich liebte ihn zu sehr, um hinzunehmen, dass sein Körper zerfiel, auch wenn ich ihm nie nahe sein durfte. Nein, das stimmte nicht, er war mir immer nah, untrennbar wie mein Schatten. Sein Lächeln, sein Gang, seine Stimme, sein Blick, seine Augen, ja, vor allem seine Augen. Wie schön er war! Ich liebe dich, und du kennst mich nicht einmal.
Ich habe meine Hände auf ihn gelegt, habe gespürt, wie ich ihn mit Kraft und Leben erfüllte, so wie damals, als ich ihn geboren habe. Ich war mir jetzt ganz sicher, dass ihn das Schlangengift nicht töten würde. Wir hatten schon Schlimmeres überlebt. Wir waren wieder ein Leib, eine Nacht lang.
Ich hielt ihn in meinen Armen, als die Skarabäen uns fanden. Mit aufgeregtem Geschrei fielen sie über mich her, wollten mir Jakaranda entreißen.
»Lass ihn los! Loslassen!«
Ein Schlag traf mich an der Schulter.
»Sie hat ihn fast umgebracht. Schafft sie fort von hier!«
Offensichtlich hielten sie mich für verrückt. Wie konnte ich ihnen auch erklären, warum ich in ihr Allerheiligstes eingebrochen war, warum ich einen von ihnen in meinen Armen hielt. Ihre Fäuste hielten mich, als wäre ich ein wildes Tier. Es schmerzte. Ich wehrte mich, so gut ich es vermochte.
Saft wurde mir eingeflößt. Ich wollte ihn ausspeien. Eine Hand verschloss mir Mund und Nase. Ich rang nach Luft und verschluckte die bittere Flüssigkeit. Davongleitend vernahm ich Karras’ Stimme: »Wie kannst du nur?«
Als ich erwachte, lag ich auf einem weichen Lager. Halbdunkel umhüllte mich. Ich fühlte mich wohl wie nach langem, tiefem Schlaf und doch zu matt, um mich zu bewegen. Ich streckte meinen rechten Arm aus und stieß gegen eine glatte Wand. Sie war über mir, neben mir, überall. Ich steckte wie ein Küken in einem Ei, in einem Ei aus Korallin. Und da fiel mir alles wieder ein: die Heilgondeln mit den toten Frauen und mit Jakaranda. Auch er mehr tot als lebendig. Wie lange war das her? Und wie kam ich hierher?
Ich war in dieses Ei gesteckt worden, so wie man Verrückte in Zwangsjacken steckt. Sie hielten mich für verrückt. Daran gab es keinen Zweifel. Ich war gezwungen, ihnen die Wahrheit zu sagen. Was aber, wenn sie die gar nicht hören wollten, wenn sie mich in den Fledermausturm gehängt hatten, um mich aus dem Weg zu räumen? Hingen hier nicht bereits drei Dutzend tote Frauen? Wie kam es da auf eine mehr oder weniger an?
Nein, das würde Karras nicht zulassen. Ich hatte ihm das Leben gerettet, und er würde … Ja, was würde er tun? Hatte er nicht seinem Orden Gehorsam geschworen? Angst erfasste mich, panische Angst.
Ich hörte, wie über meinem Kopf Gas in die Kabine strömte. Ich kannte den Geruch: Schlafmohn.
Gott ist klein. Im Traum vernahm ich die Stimme der allmächtigen Mikrobe: »Ohne mich wäre die Erde so tot wie du ohne Atemluft. Du bist ein Teil von mir, mehr, als du ahnst. Nicht die Haut begrenzt deinen Körper, sondern dein Atem. Erfasse das Leben. Atme!«
30. KAPITEL
W as soll mit ihr geschehen?«
Abt Estragon hatte die Skarabäen zusammengerufen, um mit ihnen über mich zu Gericht zu sitzen.
»Wir haben uns da eine Laus in den Pelz gesetzt«, sagte Abelard
»Eine Laus«, höhnte Rufus. »Sie ist in unseren Leib eingedrungen wie ein vergifteter Pfeil. Kein lebender
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